Flusslandschaft 1996

Atomkraft

Vor der Münchner Olympiahalle, in der am 22. Februar die Aktionärshauptversammlung der Siemens AG stattfindet, halten Vertreter der Bürger gegen Atomreaktor Garching e.V. ein Spruchband, mit dem sie gegen den Bau des Atomforschungsreaktors FRM II in Garching protestieren.

Am 5. März beteiligen sich rund 9.000 Menschen, unter ihnen auch Münchnerinnen und Münchner, an Blockaden gegen den Transport von abgebrannten nuklearen Brennstäben ins Zwischenlager Gorleben.

„Protest gegen Atom-Forschungsreaktor – Zehn Jahre nach Tschernobyl wird in München-Gar-
ching wieder der erste Atomreaktor in Deutschland gebaut. In die Öffentlichkeitsarbeit für die Nutznießer des Reaktors lassen sich mit Hilfe des TU-Präsidenten auch Ärzte der Technischen Universität München einspannen. Es kommt dagegen zu starken Protesten aus der Bevölkerung und von Ärztevereinigungen. Wir zitieren aus einem Aufruf: ‚In Hochglanzbroschüren, herausge-
geben von der TU München, wird der Ausbau des Forschungsreaktors München II (FRM II) als dringend notwendig für die Neutronen-Krebstherapie suggeriert. Dies jedoch erscheint als ein vorgeschobenes Argument, um den Rechtfertigungsnotstand einer milliardenschweren Subvention der Bayerischen Staatsregierung zu verschleiern. – Nicht nur werden unkalkulierbare Risiken für die Bevölkerung geschaffen (der Reaktor liegt im Flughafengebiet von München; der ohnehin schon stark mit krebsauslösenden Stoffen belastete Münchner Norden wird noch mehr belastet), sondern es werden auch falsche Vorstellungen bei Kranken geweckt: Nur bei weniger als ein Pro-
zent aller Krebspatienten ist eine Bestrahlung mit Neutronen von Vorteil gegenüber anderen The-
rapien mit Neutronenquellen, die ohne Atomkernspaltung auskommen. Diese Alternativen, die wirksamer und kostengünstiger sind, werden nicht in Erwägung gezogen und eine Diskussion darüber wird verhindert. Die ‚Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-
wortung’ (IPPNW) erheben neben anderen Ärztevereinigungen Protest gegen den Bau des Atom-
reaktors FRM II. Sie unterstützen im übrigen auch den Münchner Ostermarsch, der am 6. April 1996 nach Garching stattfindet. Prof. Dr. Roland Scholz, Gauting, für die IPPNW.“1

Ausstellung in der Seidlvilla in Schwabing im April: „Leben mit Tschernobyl. Fotografische Doku-
mentation der Atomreaktorkatastrophe vom April 1986 von Viktor Marustschenko (Kiew)“.

Vom 26. April bis 12. Mai veranstalten die Mütter gegen Atomkraft e.V. (MgA), Robin Wood, Um-
weltinstitut München
, Friedensbüro etc. jeden Tag von 16 – 18 Uhr auf dem Odeonsplatz eine Mahnwache zum Gedenken an die Opfer von Tschernobyl. Am 27. April lautet das Motto der De-
monstration „Tschernobyl ist überall: Sofortige Stillegung aller Atomanlagen – Energiewende jetzt!“. – Zum 10. Tschernobyljahrestag am 27. April, Samstag, finden zwei Demonstrationen statt. Die eine ist „für die sofortige Stillegung aller Atomanlagen, kein FRM II“, die andere: „Wir fordern und wollen eine Energiewende jetzt!“ Bei der ersten marschieren etwa 7.000 AtomkraftgegnerIn-
nen, insgesamt von dreizehn Umweltorganisationen und Anti-Atomkraftgruppen aufgerufen, vom Rotkreuzplatz über die Nymphenburger Straße zum Odeonsplatz. Vor der CSU-Parteizentrale, vor Bayernwerk/VIAG, Isar-Amper-Werke, TU München, Siemens-Hauptverwaltung, Innenministe-
rium und Staatskanzlei informieren „Zugbegleiter“ mit Hilfe eines Megaphons über die Rolle der besuchten Akteure. Nach Abschluss dieser Demo werden drei Leute verhaftet, die auf Flugblättern zur gewaltfreien Demontage des Betriebsgleises des Gundremminger AKWs aufrufen, sowie ein 14jähriges Mädchen, das auf der Demo angeblich einen Stein in die Tasche gesteckt hat.2

Bundesinnenminister Manfred Kanther meint Anfang Mai: „Die Bürger können sich darauf ver-
lassen, daß sich der wehrhafte Staat nicht von Chaoten und Randalierern in die Knie zwingen läßt.“ Am 8. Mai soll ein zweiter Castor-Behälter mit hochradioaktivem Atommüll, diesmal aus der Wie-
deraufarbeitungsanlage in La Hague kommend, in Gorleben eingelagert werden. Über 15.000 Poli-
zisten prügeln den Atommülltransport durch: gegen den Protest der Bäuerlichen Notgemeinschaft, der Aktion Hausfrauen stricken gegen Castor, des Verbandes Christliche Demokraten gegen Atomkraft und der örtlichen Bürgerinitiative.

1971 wurde am Auer Mühlbach die uralte Bäckermühle abgerissen. An gleicher Stelle errichtete Kfz-Meister Günter Tremmel nach sieben Jahren, in denen er mühsam mit dem Umweltschutz-
referat, dem Wasserwirtschaftsamt und dem Wassertiefbau verhandelt hat, ein privates Wasser-
werk, das 1,3 Millionen kWh/Jahr erzeugt. Sein Credo ist an der Hauswand zu lesen: „Die verges-
sene Wasserkraft / Untätig war des Wassers Lauf / und niemand achtete mehr drauf. / Hier war die Wasserkraft vergessen, / weil von Atomkraft man besessen. / Was doch der Mensch in stolzem Wahn / in der Natur zerstören kann! / Das möge man bedenken – / in Zukunft sollte die Vernunft uns lenken. / Vergesst nicht unsere Wasserkraft, / und lasst sie uns erhalten – / das mahnten schon die Alten. /Neuerbauer und Kraftwerksbetreiber Günter Tremmel“3 Er engagiert sich auch im Bundesverband Deutscher Wasserkraftwerke, eine Initiative von Kleinkraftwerken, die den großen Energieversorgungsunternehmen Paroli bietet. Die Verbandszeitung „Wassertriebwerk“ hat errechnet, dass die Angabe der Atomkraftwerkbetreiber, eine kWh aus Atomstrom koste 0,03 DM, falsch ist. Wenn man Entsorgung, Versicherungen, Unfälle und sonstige Risiken mit zähle, müsse die kWh 3,60 DM kosten.

SchülerInnen und StudentInnen demonstrieren am 18. Juni unter dem Motto „Wir wollen keinen Forschungsreaktor Garching (FRM II) in München“. Beginn 15 Uhr Geschwister-Scholl-Platz, Kundgebung 17 Uhr am Marienplatz. Die Garchinger Bürgerinitiative macht dazu auf dem Mari-
enplatz einen Info-Stand. Gina Gillig hält als Vorstandsmitglied der BI eine Rede bei der Ab-
schlusskundgebung.

Vor rund vierhundert geladenen Gästen beginnen am 1. August die Bauarbeiten des FRM II mit einem feierlichen ersten Spatenstich. Die Bürgerinitiative veranstaltet eine Gegenkundgebung.4 Zivile Polizeibeamte filmen die Aktion. Alle, die demonstrieren, erhalten eine Vorladung ins Poli-
zeipräsidium. Der Vorwurf: Landfriedensbruch und Nötigung.

Mit Stand vom 4. Oktober sind die Regionalen Arbeitsgruppen (RAG) der Mütter gegen Atomkraft aktiv in Aichach, Altdorf, Bielefeld, Dachau, Dorfen, Dresden, Erding, Freising, Fürstenfeldbruck, Fürth, Gauting, Germering, Gilching, Grafing/Ebersberg, Gräfelfing, Gröbenzell, Hausham, Hö-
henkirchen, Isen, Ismaning, Mangfalltal, Neubiberg/Ottobrunn, Oberschleißheim, Olching, Pe-
tershausen, Pfaffenhofen, Regensburg, Roßtal, Schongau, Steinebach/Wörthsee, Starnberg/Tut-
zing, Unterhaching, Unterschleißheim und Wielenbach. Die sechzehn Zentralen Arbeitsgruppen (ZAG) der MgA gliedern sich alphabetisch in: Atomforschungsreaktor FRM II, Büro, Energie, Fi-
nanzen, Fotodokumentation, Gestaltung, Gesundheit/Umwelterziehung, Kinder von Tschernobyl, Kontakte, MOX, Zeitschrift Mütter Courage, Ostkontakte, Politikerkorrespondenz, Presse, Über-
regionale Kontakte, Vorstandsbegleitung/Termine.

Am 24. November findet eine weitere Demonstration gegen den FRM II in Garching statt.

(zuletzt geändert am 16.10.2024)


1 Mitteilungen der Humanistischen Union 153 vom März 1996, 23.

2 Siehe „SektiererInnen contra Nimbys“ und „Ein bisschen Polizei-Terror, ein wenig Willkür“. Siehe die Bilder von der Mahnwache und der Demonstration „tschernobyl ist überall“ von Cornelia Blomeyer. Weitere Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen. Vgl. Peter Kafkas Redebeitrag zur Demo „Münchner Manifest 96“ in Mütter Courage. Zeitung der Mütter gegen Atomkraft 2 vom Juli 1996, 23 ff. und Süddeutsche Zeitung vom 12. April 1996.

3 Mütter Courage. Magazin der Mütter gegen Atomkraft 2 vom Juli 1996, 5.

4 Siehe „Augenzeugenberichte“.