Flusslandschaft 1996

Bürgerrechte

Am 10. März wird der neue Stadtrat gewählt. Auf einem Wahlplakat der Republikaner heißt es „Bayern sichern – ausländische Straftäter sofort ausweisen“. Eine 15jährige reißt eines dieser Pla-
kate ab.1

Am 10. März wird nicht nur der Stadtrat neu gewählt, zum ersten Mal stehen jetzt auch Mitglieder der Bezirksausschüsse zur Wahl. Schon 1991 sollten diese echte Entscheidungsrechte bekommen; die Regierung von Oberbayern und die Landtags-CSU verhinderten dies. Mit dem erfolgreichen Volksentscheid „Mehr Demokratie in Bayern“ vom 10. Oktober 1995 aber kam die Wende. Seit dem 1. Mai 1996 entscheiden die Stadtteilgremien über alles, was auf den Stadtbezirk begrenzt ist. Mit-
glieder des Bezirksausschusses Neuhausen-Nymphenburg möchten gerne als „Stadtteilrat“ firmie-
ren.2

Auch Polizisten werden beurteilt. Dienstvorgesetzte entscheiden über den beruflichen Aufstieg. Siegfried Krempl, der 1991 den Preis „Aufrechter Gang“ von der Humanistischen Union erhielt, ist jetzt 39 Jahre alt und hat damit die letzte Chance, um die Beurteilung „für den gehobenen Dienst geeignet“ zu erhalten. Krempl, Mitglied der 1986 in Hamburg gegründeten Kritischen Polizisten, erhält das Prädikat nicht. Hinter vorgehaltener Hand haben ihm Vorgesetzte immer wieder bedeu-
tet, er „verbaue sich mit seinem Engagement alles“. Sie hatten recht. — „Demokratie ist ein schwie-riges Geschäft. Besonders schwer fällt es augenscheinlich bestimmten Obrigkeitsanbetern in eini-gen Sicherheitsbehörden. Ihnen scheint es wenig auszumachen, wenn Beamte Ausländer verprü-geln oder sich auf andere Weise um die Missachtung von Bürgerrechten ‚verdient’ machen. Anders jedoch, wenn ein vorzüglicher Beamter seine Stimme für mehr Rechtsstaatlichkeit und Mit-menschlichkeit erhebt. Er muss sein Engagement mit erheblichen beruflichen Nachteilen bezahlen. Die empörende Weigerung der Münchner Dienstvorgesetzten von Siegfried Krempl, ihm den längst fälligen Aufstieg in den gehobenen Dienst zu ermöglichen, ist nichts anderes als politische Repression. Sie ‚zeichnet sich aus’ durch das genaue Gegenteil dessen, wofür Krempl 1991 mit dem Bürgerrechtspreis der Humanistischen Union ,Aufrechter Gang’ geehrt wurde. Die Humanistische Union fordert den Innenminister des Freistaates Bayern und den Landtag dringend auf, der Rechtsstaatlichkeit auch im Bereich der Polizei Geltung zu verschaffen.“3 – Siegfried Krempl ist die Ausnahme. Institutionelle Zwänge und strukturelle Gewalt formt Denken, Fühlen und Handeln der meisten Polizisten, die sich – wenn überhaupt – nur mit hilflosen Gesten zu wehren versuchen. Dies wird bei einem Interview deutlich, das Hella Schlumberger mit drei Polizeibeamten führt.4

14. August: Beamte des Bayerischen Landeskriminalamts brechen die Türen des Infoladens und des Haidhauser Stadtteilladens auf und durchsuchen die Schränke der Initiativen Haidhauser Nachrichten, Anatolisches Kulturzentrum Hoy Top e.V., Mieterinitiative Haidhausen, Mittelame-
rika Sekretariat e.V
., musica femina münchen e.V. und Mieterberatung des Vereins Mieter helfen Mietern und nehmen Unterlagen und Computer mit. Offenbar war man auf der Suche nach einem Mann, der im März einen Infostand zur Kommunalwahl angemeldet und auf demselben eine Zei-
tung ausgelegt hatte, in der eine kleine Anzeige abgedruckt war, die darüber aufklärte, wo und unter welchen Umständen die Untergrundzeitschrift Radikal zu beziehen ist, ein Fall von „Beihilfe zur Werbung für eine terroristische Vereinigung“.5

„‚Mehr Demokratie’ zieht Bilanz – Die Initiative ,Mehr Demokratie’ hat Grund zur Freude, denn der kommunale Bürgerentscheid, den sie in Bayern durchgesetzt hat, feierte am 1. Oktober den ersten Geburtstag. Vor einem Jahr sprachen sich die bayerischen Wähler in einem Volksentscheid mit einer Mehrheit von fast 60 Prozent für das Gesetz von ‚Mehr Demokratie’ aus (gegenüber 40 Prozent für den Gesetzentwurf der CSU). Innerhalb dieses Jahres haben über 100 Bürgerent-
scheide stattgefunden, 317 Bürgerentscheide wurden begehrt. So viele Bürgerbegehren wie in Bayern gibt es sonst nirgends. Der Anteil der Begehren, die von der Bevölkerung gebilligt bzw. abgelehnt wurden, betragt 50 : 50. Thomas Mayer, Geschäftsführer von ‚Mehr Demokratie’ be-
tonte, dass die düsteren Vorhersagen der CSU für Bayern bei einem Erfolg von ,Mehr Demokratie’ nicht eingetreten seien. Ministerpräsident Stoiber hatte im letzten Jahr sogar orakelt, dass das Oktoberfest durch Bürgerentscheide gefährdet sei. Mayers Fazit: ‚Die bayerischen Erfahrungen mit der Bürgermitbestimmung sind durchweg positiv. Deshalb müssen die Bürger in den anderen Bundesländern und auf Bundesebene ein ebenso weitreichendes Entscheidungsrecht haben.’ ‚Mehr Demokratie’ bereitet deshalb z.Z. eine Kampagne zur Einführung des bundesweiten Volksent-
scheids vor. – In München wird ein neues Bürgerbegehren ‚Wir entschulden München’ geplant. Gerechte und bürgerfreundliche Entschuldungslösungen werden gesucht, die nicht von oben ver-
ordnet sind. Ein Konzept, das mit Interessierten weiter ausgearbeitet werden soll, liegt bereits vor. – Kontakt: Thomas Mayer, Fritz-Berne-Str. 1, 81241 München, Tel 089/82117-74“6

„Staatsschutz behindert Junge Presse Bayern – Seit etwa einem Jahr befindet sich das Büro des Landesverbands der bayerischen Jugendmedien, Junge Presse Bayern e.V. (JPB), in Büroge-
meinschaft mit der Geschäftsstelle der Humanistischen Union in der Bräuhausstraße München. Der Verband unterstützt Schüler- und Jugendzeitungen sowie Jugendmedienprojekte in Bayern und ist von Jugendlichen selbstorganisiert. Seminare und Workshops bieten nicht nur gestal-
terische Hilfen, sondern auch Rat und Tat an, wenn es um aktuelle gesellschaftliche Themen oder um Zensur geht. (Hier treffen sich die Interessen mit der Humanistischen Union.) – Am 3. Okto-
ber 1996, dem ‚Tag der deutschen Einheit’ ist es dann passiert: Am Rande der Gegendemonstra-
tion zu den staatlichen Einheitsfeiern wurde einer der Sprecher der JPB, Walter Schneeweiß, mit dem Vorwurf, gegen das Vermummungsverbot verstoßen zu haben, festgenommen und erken-
nungsdienstlich behandelt. Da man bei ihm einen Schließfachschlüssel fand, wurde auch gleich der im Bahnhof stationierte Laptop, auf dem die aktuelle Mitgliederdatei der JPB gespeichert war, konfisziert. Damit aber nicht genug: Die elterliche Wohnung wurde durchsucht, Papiere beschlag-
nahmt und der Computer des Vaters (Universitätsprofessor) nur deshalb nicht mitgenommen, weil sonst der Institutsbetrieb lahmgelegt worden wäre. – Ein solches unverhältnismäßiges Vorgehen der Staatssicherheit zeigt, in welchem Ausmaß kritische und engagierte Stimmen als Gefahr einge-
schätzt – und damit demokratische Bürgerrechte einem überzogenen Sicherheitswahn geopfert werden. – Kontakt: Junge Presse Bayern e.V., Bräuhausstr. 2, 80331 München, Tel. 089/291 650-51“7


1 Siehe „Die Polizei: wessen Freund und Helfer?“.

2 Siehe „Leserbrief zum ‚Räte’-Titel der Januarausgabe der Westend Nachrichten“.

3 Mitteilungen der Humanistischen Union 155 vom September 1996, 87; vgl. Claudia Wessel: „Die Karrierebremse, kritisch zu sein – Siegfried Krempl, wegen seines ‚aufrechten Ganges’ ausgezeichnet, ist politisch missliebig“ In: Süddeutsche Zeitung vom 5. Juli 1996.

4 Siehe „Das Unrechtsbewusstsein schwindet“ von Helmut Bayer, Franz Büch und Herbert Voest.

5 Vgl. Haidhauser Nachrichten 9 vom September 1996, 1 ff.; siehe „Offener Brief“.

6 Mitteilungen der Humanistischen Union 156 vom Dezember 1996, 111.

7 A.a.O., 111 f.