Flusslandschaft 2002
Sicherheitskonferenz
Noch im Februar 2001 hat kaum jemand Notiz von der Sicherheitskonferenz (Siko) genommen, die der ehemalige CDU-Kanzlerberater Horst Teltschik leitet. Unter einer Hand voll Demonstranten vor dem Bayerischen Hof auf dem Promenadeplatz 6 befand sich zum Beispiel Stadtrat Bernhard Fricke von David gegen Goliath, der im Strahlenschutzanzug gegen die Uranmunition der Nato protestierte. Hundert Polizisten bewachten ihn und seine Mitstreiter. Jetzt, 2002, befürchten die Sicherheitskräfte plötzlich auch in München ein Horrorszenario – nachdem es bei Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua zu heftigen Zusammenstößen gekommen ist.
Dreihundert Vertreter und Vertreterinnen von zweihundert Organisationen haben auf dem 24. Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (BUKO) im Oktober 2001 in der Lud-
wig-Maximilians-Universität (LMU) am Geschwister-Scholl-Platz 1 die Folgen des 11. September in New York und die Ereignisse von Genua diskutiert. Der Kongress beschloss Proteste gegen die Siko unter dem Motto „Von Genua nach München – stoppt die Kriegspolitik der NATO“.
Rund hundert Initiativen und Gruppen aus München und vielen anderen Städten der BRD mobili-
sieren inzwischen zu den geplanten Gegenaktionen. Auch Delegationen aus Italien, Österreich, aus Frankreich und der Schweiz werden zu der Großdemonstration in München erwartet. Unterstützer des Aufrufs sind u.a. das Münchner Bündnis gegen Rassismus, der AStA, der Bayerische Flücht-
lingsrat, die DKP, die Münchner Gewerkschaftslinke, der Freidenkerverband, die PDS, Ökumeni-
sches Büro für Frieden und Gerechtigkeit, zahlreiche Antifa- und Dritte Weltgruppen. Attac, Schü-
lergruppen und das Münchner Friedensbündnis mobilisieren mit eigenen Aufrufen zur gemeinsa-
men Demo. Innenminister Beckstein: „Unsere Devise lautet wie eh und je: Null Toleranz gegen-
über jedweder Gewalt!“2
Auf die Bitte, für mehrere Tausend erwartete Kriegsgegner städtische Räume (z.B. Schulturnhal-
len) zur Verfügung zu stellen, antwortet Oberbürgermeister Ude: „Das Ansinnen, Schulräume zur Verfügung zu stellen, um Störungen zu ermöglichen, habe ich als absurd zurückgewiesen.“ Mit einem öffentlichen Sleep-In protestieren daraufhin am Sonntag, den 20. Januar, einige Dutzend Friedensaktivisten vor dem Münchner Rathaus – allerdings ohne das Herz des OB einer „Weltstadt mit Herz“ zu erweichen. Aber es springen kirchliche Organisationen und Vereine ein und nehmen Gäste aus anderen Städten auf, zum Teil unter ständiger Schikane durch Polizei und Behörden. Des weiteren wird Kulturinitiativen mit der Streichung von Subventionen gedroht, falls sie sich an Gegenveranstaltungen der NATO-Kritiker beteiligen oder sie sogar organisieren sollten. Beispiels-
weise wird dem EineWeltHaus (EWH) untersagt, seine Räumlichkeiten als Infopoint und Schlaf-
platzbörse zur Verfügung zu stellen. Auf einer Diskussionsveranstaltung mit dem Thema „Die neue NATO-Strategie“, welche Mitte Januar im EWH stattfindet, ist es verboten, auf die geplanten De-
monstrationen mündlich oder mit Flugblättern hinzuweisen.
Bürgermeister Monatzeder verbietet im Auftrag des Oberbürgermeisters die Durchführung der Veranstaltung „Der deutsche Imperialismus und die Militärmacht Europa – Komplizen und Kon-
kurrenten im Krieg um die globale Vorherrschaft“ im EWH und droht dessen Vorstand damit, andernfalls dem Trägerkreis zu kündigen. Die Veranstaltung mit Friedbert Pflüger und Claus Schreer findet stattdessen am Dienstag, 29. Januar, im Gewerkschaftshaus statt.
Im alternativen Kafe Kult (KK) soll ein Solidaritätskonzert zur finanziellen Unterstützung der Pro-
testaktionen stattfinden. Die Betreiber des KK erhalten von der Polizei einen Anruf, in dem mit „ernsten Konsequenzen“ gedroht wird, wenn das Konzert in der geplanten Form abgehalten werde. Dazu muss man wissen, dass das KK auf städtischem Grund steht. Um dem KK Schwierigkeiten zu ersparen, tritt das Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz als Veranstalter des Konzerts zurück.
Die Universitätsleitung der LMU zieht eine ursprünglich erteilte Genehmigung zur Nutzung des Audimax für eine international besetzte Podiumsdiskussion zurück. Ob es hierzu erst des Drucks der Stadt oder der Landesregierung bedurfte, oder ob die Uni-Leitung aus freien Stücken tätig ge-
worden ist, ist nicht ersichtlich. Jedoch muss die Veranstaltung verlegt werden. Zum selben Zeit-
punkt wird bekannt, dass die Münchner Stadtsparkasse das Konto des Bündnis gegen Rassismus, auf dem Gelder für die Aktionen gegen die Sicherheitskonferenz gesammelt werden, kündigen will. Der Pressesprecher der Bank begründet diesen Schritt damit, dass der Kontoinhaber das Konto nicht ausdrücklich als Spendenkonto deklariert habe.3
„Am 29. Januar 2002, drei Tage vor Beginn der Konferenz, trifft um 8.10 Uhr im Polizeipräsidium München per Fax ein Bericht des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz ein. Darin wird vor 2.500 bis 3.000 ‚gewaltbereiten Störern’ gewarnt. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die SZ in ihrer Ausgabe vom selben Tag unter der Schlagzeile ‚3.000 Autonome im Anmarsch’ bereits verkündet hatte: ‚Nach den Erkenntnissen des Bayerischen Innenministeriums bereiten derzeit 2.000 – 3.000 Autonome aus Italien, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden ihre Reise nach Mün-
chen vor.’ Am frühen Nachmittag erreicht dieses Fax auch das Münchner Kreisverwaltungsreferat (KVR). Polizeipräsident Roland Koller informiert den KVR-Chef Winfried Blume-Beyerle persön-
lich. Noch am Nachmittag desselben Tages kündigen die Vertreter des städtischen KVR den An-
melder/innen der internationalen Großdemonstration ein Totalverbot aller Proteste von Freitag bis Sonntag an.“4 Mit dieser Entscheidung wird jegliche demokratische Meinungsäußerung verbo-
ten, die grundgesetzlich geschützte Versammlungsfreiheit aufgehoben und faktisch der Ausnahme-
zustand über München verhängt.
Am ersten Februarwochenende herrscht in München anlässlich der NATO-Sicherheitskonferenz der Ausnahmezustand. Der Rechtsstaat und die freie Meinungsäußerung sind außer Kraft gesetzt. Demonstrationsverbote und Veranstaltungsverbote, Abweisung an den Grenzen, Kontrollen auf den Autobahnen und in den Zügen sowie vorbeugende Sicherungsverwahrung für die Organisato-
ren und Massenverhaftungen von Demonstranten sollen jeden Protest im Keime ersticken. Tau-
sende von Polizisten versuchen, ein allgemeines Demonstrationsverbot durchzusetzen. Dennoch lassen sich weder am Donnerstag, 31. Januar, noch am Freitag und Samstag jeweils Tausende Menschen daran hindern, ihren Protest gegen Kriegspolitik und Demokratieabbau deutlich zu machen. Das AntiSiko-Bündnis umfasst zuletzt einhundertfünfzig Organisationen.
Bei einer Kundgebung am Donnerstag, 31. Januar, 17 Uhr auf dem Marienplatz mit 2.500 Teil-
nehmern kommt es zu ersten Verhaftungen. Am Abend des 31. Januar demonstrieren dann über zweitausend Menschen auf dem Marienplatz gegen das Verbot und ziehen in einem beeindruk-
kenden Demonstrationszug zum bayrischen Innenministerium. „Es kommen nicht zweitausend Gewalttäter, wie die Polizei sagt, nach München, sondern zweihundert – und die sitzen im Baye-
rischen Hof“, sagt Claus Schreer für das AntiSiko-Bündnis. Auszüge aus der Rede von Conrad Schuhler am 31. Januar auf dem Marienplatz: „In was für einer Stadt leben wir eigentlich, wo der Oberbürgermeister eilfertig zum Sektempfang bittet für die aus aller Welt herbei geeilten Strategen eines Krieges, dessen erster Teil soeben in Afghanistan über 4.000 Zivilisten das Leben gekostet hat, und wo der selbe Oberbürgermeister die Kundgebungen von Gegnern dieses Krieges verbietet? … Herr Ude hat schon im Vorfeld zwei Informationsveranstaltungen der Kriegsgegner verboten. Die Begründung der Stadt: die Veranstaltungen würden gegen den Grundsatz der Toleranz und Völkerverständigung verstoßen. Toleranz und Völkerverständigung – diejenigen, die dagegen ver-
stoßen, versammeln sich heute im Bayerischen Hof. Die USA haben das Volk von Afghanistan dafür bestraft, dass al Qaida und die Taliban – die Schöpfungen der USA – nicht mehr im Sinne ihrer Erfinder funktioniert haben. Man hat das ärmste Land der Erde noch einmal zusammenge-
bombt, um den Weg frei zu haben für Ölpipelines und Gaspipelines … Toleranz und Völkerfreund-
schaft? Wenn die USA jetzt damit drohen, überall auf der Welt Menschen auszumerzen und Völker zu bombardieren, wie es in das weltpolitische Kalkül der globalen Konzerne und ihrer Regierungen passt? Um nichts anderes geht es bei der Tagung der NATO-Strategen im Bayerischen Hof, es geht um die langfristige militärische Absicherung der Plünderung des Planeten durch das global operie-
rende Kapital.“5
Zu Beginn der Siko richtet Ude für die angereisten Gäste im Hotel am Promenadeplatz einen Emp-
fang aus. „Der Oberbürgermeister redete englisch, mit hörbar münchnerischem Zungenschlag. Die fremden Lispellaute gingen ihm nicht leicht über die Zähne, und auch das Ausdrucksvermögen des in eigener Muttersprache so eloquenten OB holperte ein bisschen. Von Krieg und Frieden sprach er und einem nicht nur militärischen Verständnis von Sicherheit. Über eine halbe Stunde mühte er sich – vergebens: Niemand hörte zu. Die Minister, Militärs, Parlamentarier aßen Häppchen, tran-
ken Wein und ließen das Grußwort im Geräuschteppich ihrer Gespräche versinken. Die im Hotel Bayerischer Hof zur Münchner Sicherheitskonferenz versammelten Weltkrisenmanager interes-
sierten sich hörbar wenig für das, was der örtliche Millionendorfschulze zu sagen hatte.“6
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Am Freitag, 1. Februar, versammeln sich trotz Verbot wiederum Hunderte Menschen um 17 Uhr auf dem Marienplatz, wo das AntiSiko-Bündnis eine open-air Pressekonferenz abhalten will. Zahlreiche live kommentierenden Journalisten sind anwesend. Polizeifahrzeuge besetzen den Platz. Zugleich strömen immer mehr Menschen auf den Marienplatz. Es sind jetzt mehrere Tau-
send. Viele Demonstranten tragen Pflaster auf dem Mund, einige verteilten leere Blätter, man sieht Schilder „Ich bin kein Demonstrant“ – auf vielfältige Weise wird der Widerstand deutlich. Ein Transparent wird enthüllt „Demokratie verteidigen – Polizeistaat verhindern“. Einsatzhundert-
schaften beginnen damit, den Platz zu räumen. Sprechchöre rufen: „Wir sind das Volk!“ Sitzblok-
kaden werden eingekesselt. Menschen werden zu Boden geworfen und abgeführt. Schließlich be-
schlagnahmt die Polizei leere Transparente und Plakate und „säubert“ gegen 18 Uhr den Marien-
platz, wobei die Beamten teilweise brutal auf friedlich sitzende Menschen eintreten und über dreihundert Demonstranten festnehmen.
Am Samstag, 2. Februar, ein ähnliches Bild. Ab 12 Uhr, dem Zeitpunkt der ursprünglich geplanten Demonstration, sammeln sich immer mehr Menschen auf dem Marienplatz zwischen kreuz und quer abgestellten Mannschaftswägen der Polizei. Zur gleichen Zeit wird der Organisator des Anti-
Siko-Bündnis, Claus Schreer, in der Fußgängerzone festgenommen und abgeführt. Er befand sich auf dem Weg von einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Fraktionsvorsitzenden der Münchner Grünen Sigi Benker und Konstantin Wecker zum Marienplatz, um, wie es seiner ge-
setzlichen Verpflichtung als Versammlungsleiter entspricht, der Menge das Verbot ihres Protestes mitzuteilen. Als die Polizei gewaltsam die etwa achttausend friedlichen Demonstranten vom Platz vertreibt, gelingt es diesen, einen Demonstrationszug zu bilden. Zehntausend (nach Angaben des Bayerischen Rundfunks) demonstrieren schließlich trotz Verbot friedlich durch die Innenstadt. An der Zwingerstraße stoppt eine Polizeikette den Zug. Auf der Frauenstraße werden Demonstranten eingekesselt. Einen weiteren Polizeikessel gibt es im Tal zwischen dem Isartor und dem Alten Rat-
haus, den schließlich Hunderte durchbrechen, um auf den Marienplatz zu gelangen. Unter ande-
rem umzingelt die Polizei das Gewerkschaftshaus an der Schwanthalerstraße 64, in dem eine ge-
nehmigte Veranstaltung stattfindet. Erst um 22 Uhr zieht sich die Polizei zurück und lässt die Teil-
nehmer der Veranstaltung nach Hause gehen. Insgesamt werden über achthundert Verhaftungen vorgenommen. Es ist dem besonnenen Handeln der Demonstrationsteilnehmer zu verdanken, dass dieses Wochenende nicht im von der Stadtverwaltung und dem bayrischen Innenministerium er-
warteten Chaos endet. Für Politik und Polizei sind die Ereignisse ein Desaster.8
Die Polizei verhindert vom 2. – 4. Februar Anfahrten von Omnibussen aus anderen Städten zu Ver-
anstaltungen anlässlich der AntiSiko-Proteste. In Berlin kommt es vor der bayerischen Landesver-
tretung zu Protesten dagegen.9
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Wie gerechtfertigt der Protest ist, beweist die Tagung selbst. So versucht der stellvertretende Ver-
teidigungsminister der USA, Mr. Wolfowitz, die Teilnehmer auf das nächste Ziel der NATO-
Kriegsmaschinerie einzuschwören: der Irak, ein durch US-Krieg und Sanktionen bereits völlig ausgeblutetes Land, soll das nächste Opfer im „Kreuzzug“ für die Festigung der Neuen Weltord-
nung und der Errichtung einer globalen politisch-militärischen Diktatur durch die G-7-Länder und die Transnationalen Konzerne werden.11
Wolfgang Fritz Haug spricht am Sonntag, 3. Februar, zum Thema »Globalisierung und Terror – Nichts ist neu, alles ist anders« im Gewerkschaftshaus.12
Insgesamt kontrolliert die Polizei an diesem Wochende 1.898 Personen und spricht 1.059 Platzver-
weise aus. Bis zum Sonntag sind über achthundert Menschen festgenommen worden. Monate spä-
ter erhalten über fünfhundert Menschen, die zwischen dem 1. und 3. Februar in der Innenstadt, besonders auf dem Marienplatz, „festgestellt“ wurden, vom Kreisverwaltungsreferat kostenfreie Verwarnungen, 89 Personen erhalten Bußgeldbescheide von bis zu 200 €uro.
„Der Münchener Ermittlungsausschuss zählte etwa 850 Verhaftungen, 350 davon am Freitag, der Rest am Samstag. Die meisten Leute sind mit der Begründung ,Teilnahme an einer verbotenen Versammlung’ in Gewahrsam genommen worden, einer Ordnungswidrigkeit, die in etwa dem ,Falschparken’ entspricht. – Zur beklagen sind die zum Teil miserablen Umstände und die Miss-
achtung der Rechte der Gefangenen. Vielen wurde ein Telefonat vorenthalten. Außerdem war eine große Anzahl Minderjähriger betroffen, deren Eltern weder informiert wurden noch auf Nachfrage Auskunft erhielten. Dieses rechtswidrige Verhalten der Polizei muss Konsequenzen haben. Ebenso wie die vielen Kessel insbesondere der letzte in der Schillerstraße, in dem die Menschen über Stun-
den in der Kälte ausharren mussten. Leider haben wir in München den traurigen Verhaftungsre-
kord. Er übersteigt unseres Wissens nach alle Zahlen bei den bisherigen Gipfeltreffen, sowie den ,Münchner Kessel’ von 1992 (etwa 480). – Die Eskalation wurde nicht durch, sondern trotz der Po-
lizei verhindert. Sie wurde nur und ausschließlich von der Polizei betrieben. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigten sich besonnen, auch wenn sie sich ihr Grundrecht auf Meinungsäußerung nicht verbieten ließen. Die Lüge der Polizei von den angeblich 3.000 anreisenden ,Chaoten’ wurde in das Märchenreich verwiesen. Die Teilnehmer – Autonome, SozialistInnen, BürgerInnen oder SchülerInnen – waren keine ‚reisende Gewalt-Chaoten‘, sondern sie waren die Besonnenen, aber auch beharrlich auf ihre Rechte Bestehenden. – Sollte sich die Vermutung über Polizeiprovoka-
teure bestätigen, muss das weitreichende Konsequenzen für die Verantwortlichen haben. Rücktrit-
te sowie straf- und dienstrechtliche Konsequenzen dürfen dann nicht ausbleiben. Insbesondere muss sich die Presse fragen, ob sie ihren unkritischen Kurs beibehält und sich weiterhin als Schreibstube der Polizei betätigt und die Presseerklärungen der Polizei unkritisch übernimmt oder durch eigene Recherchen ihrem journalistischen Kodex gerecht wird. Gegen die Versammlungs-
verbote werden vom Bündnis noch Klagen in allen Instanzen angestrebt. Dies wird jedoch eine Zeit dauern. – Der Ermittlungsausschuss bittet um Rückmeldungen von Entlassenen, um seine Liste zu bereinigen. Er sucht zudem Zeugen von Polizeiübergriffen und Aktionen von Polizeiprovokoteuren. Hinweise gehen an den EA 089/4489638, muenchen@ermittlungsausschuss.de. Unter der glei-
chen Nummer bietet die Rote Hilfe mittwochs von 18 – 19 Uhr eine Rechtshilfe an.“13
„Seit März erhalten nun zahlreiche Teilnehmer polizeiliche Anhörungsbögen wegen angeblichen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz, obwohl sie weder festgenommen noch kontrolliert wor-
den sind. Das zeigt, dass die Polizei die Videoaufzeichnungen des Wochenendes zur Identifikation der Demonstranten auswertet. Mit den so gewonnen Daten werden zum einen politisch aktive Menschen kriminalisiert, zum anderen werden die Daten gespeichert und weiterverarbeitet, um neue Erkenntnisse über linke, politische Aktivitäten zu erlangen. Es ist davon auszugehen, dass diese Daten auch mit anderen Behörden nach Belieben ausgetauscht werden. So kann das demo-
kratische Engagement gegen Grundrechtseinschränkungen im Februar in München dazu führen, ins Visier des Verfassungschutzes zu geraten und dauerhaft in einer Polizeikartei gespeichert zu werden.“14
„Im Vorfeld wurde ein Infoladen durchsucht, verdachtsunabhängige Kontrollen sollten anreisende DemonstrantInnen abschrecken. An den Grenzen zur Schweiz und zu Österreich wurden potenziel-
le DemonstrantInnen abgewiesen. Zahlreichen Personen wurde selbst die Teilnahme an nicht ver-
botenen Saalveranstaltungen untersagt. Jegliche Demonstration wurde schon im Ansatz unmög-
lich gemacht, insbesondere durch Ingewahrsamnahme von – laut Ermittlungsausschuss – ca. 850 Personen. Erst vor wenigen Tagen erließ das Kreisverwaltungsreferat Bußgeldbescheide gegen verhaftete Personen. Die Münchner Vorgänge sind noch gerichtlich anhängig. Klagen richten sich sowohl gegen die Ingewahrsamnahmen als auch gegen einzelne besonders fragwürdige Polizeiak-
tionen wie Einkesselungen und die Versammlungsverbote selbst. Die bayrischen Behörden diffe-
renzierten in keiner Weise zwischen ,friedlichen‘ und ,unfriedlichen‘ DemonstrantInnen, um ge-
mäß der Vorgabe des Brokdorf-Beschlusses die Großdemonstrationen und damit eine Ausübung des Demonstrationsrechtes möglich zu machen. Eine zweifelhafte Gefahrenprognose bemühte vor allem gewalttätige Auseinandersetzungen bei Gipfelereignissen im Jahre 2001, ohne zwischen Ur-
sache und Wirkung, zwischen staatlicher Gewalt – gerade im Falle Genua – und Reaktionen der DemonstrantInnen sowie zwischen den verschiedenen Spektren der GlobalisierungskritikerInnen zu differenzieren. Das Versammlungsrecht war insgesamt für alle während der Tage der Münchner Konferenz außer Kraft gesetzt.“15
Anfang 2003 stellt das Verwaltungsgericht München im Hauptsacheverfahren fest, dass das totale Versammlungsverbot vom 1. bis 3. Februar 2002 rechtswidrig war.16 Claus Schreer wird wegen seiner Outdoor-Pressekonferenz, die als verbotene Versammlung gewertet wird, zunächst zu einer Geldstrafe von 2.400 Euro verurteilt, jedoch in der Revision freigesprochen.17
Konstantin Wecker an OB Ude: „Mir ist unbegreiflich, weshalb Du in Deiner Stadt nicht einem Ge-
gengipfel zugestimmt hast, bei dem Kriegsgegner die Möglichkeit bekommen hätten, ihre überle-
benswichtigen Argumente den Bürgern unserer Stadt näher zu bringen … Aber Du hast das marti-
alische Polizeiaufgebot ja nicht gesehen. Du warst bei der Waffenlobby und den Kriegstreibern im Bayrischen Hof … Ich habe volles Verständnis dafür, dass Du München vor Gewalttätern schützen willst – aber dann hättest Du nicht nur die Autobahnen sperren sollen, sondern vor allem den Flughafen und viele Konferenzteilnehmer wieder nach Hause schicken sollen. Wer bitte ist ein Gewalttäter, wenn nicht die Militärstrategen und Minister eines kriegführenden Landes?“, fragt Wecker. „Wie sehr ich auch weiterhin Deine persönlichen Qualitäten nicht in Frage stellen werde, so kann ich doch diese Politik nicht mehr gut heißen. Du wirst sicher Verständnis dafür haben, dass ich Dich bei diesem Wahlkampf nicht, wie zugesagt, musikalisch unterstützen kann.“18
1. Resümee: Die Verbote der Demonstrationen erreichten im Ergebnis genau das Gegenteil dessen, was sie vorgeblich anstrebten. Der Zorn von Tausenden von Münchnerinnen und Münchnern rich-
tete sich dabei weniger gegen die „Sicherheitskonferenz“ selbst als gegen den vom Kreisverwal-
tungsreferat verhängten „Maulkorb“. Erst das Verbot richtete die Aufmerksamkeit der Öffentlich-
keit auf die „Sicherheitskonferenz“. Nur so erklärt sich die massenhafte Teilnahme an den Demon-
strationen der folgenden Jahre. Die Stadt verhängt in den kommenden Jahren keine Verbote mehr. Am massiven Polizeiaufgebot ändert sich aber nichts.19
2. Resümee: „Der staatliche Versuch, den Brückenschlag zwischen radikaler Kritik an der kapitali-
stischen Globalisierung und einer neuen Antikriegsbewegung zu verhindern, war damit geschei-
tert. ‚Wir sind Teil der weltweiten Widerstandsbewegung, die sich seit Seattle über Genua, Porto Alegre und Barcelona entwickelt hat, und wir lassen uns nicht auseinander dividieren. Wir erklä-
ren den Kriegsstrategen: Ihr seid hier und anderswo unerwünscht’, schrieb das Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz in einem gemeinsamen Aufruf mit Attac und dem Münchner Frie-
densbündnis für das nächste Jahr. Am 8. Februar 2003 demonstrierten bei eisiger Kälte und Schneeregen rund 35.000 Menschen gegen die Sicherheitskonferenz und den drohenden Irakkrieg. Seit 2002 zählen die Münchner Proteste gegen die NATO-Sicherheitskonferenz zu den wichtigsten, größten und vor allem kontinuierlichsten antimilitaristischen Aktivitäten in Deutschland. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über Krisen, Kriege und den Zusammenhang von kapitalistischer Globalisierung und der Militarisierung der deutschen Außenpolitik: In den Foren der Antikriegskongresse im Münchner DGB-Haus wurde zum Beispiel bereits 2003 vor einem drohenden ‚Dauerkriegszustand in Afghanistan’ gewarnt, der nicht zu gewinnen sei. Auch die Fol-
ter im US-Gefangenenlager Guantanamo, die Militarisierung der Migrationspolitik oder der Zu-
sammenhang von sozialer Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und der Gefahr von Kriegen um Wasser und Rohstoffe wurden dort bereits diskutiert, als die offizielle Politik den Einsatz der Bun-
deswehr weltweit noch als ‚humanitäre Friedensmission’ bezeichnete.“20
»Sonntag, 6. Oktober: ,Nach dem Spiel ist vor dem Spiel’. Soli-Party zur Unterstützung der Klagen gegen die Polizeimaßnahmen bei der Nato-Sicherheitskonferenz im Februar. Im DGB-Haus, Schwanthalerstr. 64, ab 2o Uhr.«21
Was ist für die politischen Entscheider sinnvoller: Repression oder kontrolliertes Zulassen von Freiräumen? Nächstes Jahr soll die Gegendemonstration stattfinden dürfen.22
(zuletzt geändert am 16.9.2024)
1 konkret 1 vom Januar 2002, 5.
2 Siehe Thies Marsen, Kessel im Anmarsch, in: Jungle World 3 vom 16. Januar 2002, https://jungle.world/artikel/2002/03/kessel-im-anmarsch.
3 Zu all diesen Verboten siehe den Newsletter 6 des Anti-NATO-Bündnis, bukko24 27.1.2002, http://de.indymedia.org/2002/01/14340.shtml.
4 Michael Backmund: „‚Kriegsgerät interessiert uns brennend’ – Antimilitaristische Proteste – Schlaglichter von 1945
bis 2010“ in Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats
der Landeshauptstadt München, München 2011, 158. Siehe auch www.boa-muenchen.org/boa-kuenstlerkooperative/n0201310.htm#top.
5 www.dkp-suedbayern.de/muenchen/rb/140.html
6 Süddeutsche Zeitung 288 vom 13. Dezember 2002, 38.
7 An der Litfaßsäule vor dem „Import Export“ im Kreativquartier Ecke Dachauer/Schwere-Reiter-Straße anlässlich der Trauerfeier für Claus Schreer am 4. Oktober 2023. Foto: Richy Meyer
8 Fotos: Impressionen am Rande der Siko und des Protestes dagegen 1. – 3. Februar 2002, Standort: www.arbeiterfotografie.com/galerie/reportage/index.html.
Siehe auch „Eine kleine Erzählung vom anderen Stern“ von Günther Gerstenberg und www.boa-muenchen.org/boa-kuenstlerkooperative/n0201300.htm#muenchen7.
9 12 Fotos: Berlin-München. Polizei verhindert die Fahrt zu Veranstaltungen anlässlich der Siko – Protest dagegen in Berlin vor der bayerischen Landesvertretung, 2. – 4. Februar 2002, Standort: www.arbeiterfotografie.com/galerie/reportage/index.html
10 Grafik: Bernd Bücking. In: unsere zeit. Sozialistische Wochenzeitung 36 vom 8. Februar 2002, Essen, 2.
11 Siehe dazu auch
- „Sehr geehrter Herr Ude“ von Christian Burchard,
- „Leserbrief zum Demonstrationsverbot vom 1. – 3. Februar 2002 in München“ von Axel Kotonski,
- „Auf dem Weg zum Polizeistaat“ und
- „Der Fall Schillerstraße“.
12 Siehe http://www.gegenentwurf-muenchen.de/globterr.htm.
13 unsere zeit. Sozialistische Wochenzeitung 7 vom 15. Februar 2002, Essen, 3.
14 Münchner Lokalberichte vom 16. Mai 2002.
15 Bürgerrechte & Polizei. Cilip 70, Nr 3/2001, 19 f.
16 Vgl. Haidhauser Nachrichten 3 vom März 2003, 11.
17 Siehe „SICHERHEITSKONFERENZ – Ausnahmezustand in München“. Siehe auch das Interview mit Claus Schreer: „Totales Meinungsverbot in München“
19 Siehe „Eine ganze Stadt unter Demonstrationsverbot“ von Elke Steven und „München – eine Stadt im Ausnahmezustand“ von Christiane Kröll.
20 Michael Backmund, a.a.O., 160.
21 Jungle World 41 vom 2. Oktober 2002, 12.
22 Siehe Thies Marsen, Frieden am Stachus, in: Jungle World 1/2 vom 24. Dezember 2002, 12, https://jungle.world/artikel/2002/52/frieden-am-stachus.