Flusslandschaft 1954

Gewerkschaften/Arbeitswelt

Fortsetzung des „Ladenschlusskriegs“: Am 13. Februar kommt es erneut zu Protesten und Aufläu-
fen, die die Polizei aber schnell im Griff hat. Nach einem Aufruf der Deutschen Angestellten-Ge-
werkschaft
(DAG) blockieren am 20. Februar, einem Samstag, um 14 Uhr etwa tausend Demon-
strantInnen die Eingänge von Filialen der Firmen Salamander und C&A. „Die Polizisten zogen ihre Gummiknüppel und schlugen auf die randalierende Menge ein. Jugendliche griffen die Beamten an und verursachten so regelrechte Schlägereien, in deren Verlauf die Angreifer zu Boden gingen. Polizeimützen lagen herum. Verprügelte liefen davon. Neugierige stiegen auf parkende Autos und die Menge tobte.“1 Da räumen eine Hundertschaft der Polizei mit vorgehaltenen Karabinern, berit-
tene Polizei und Wasserwerfer die Straße. Sechs Personen werden verhaftet, einige Hundertschaf-
ten der mit Stahlhelmen und Karabinern ausgerüsteten Einsatzpolizei sowie der Wasserwerfer bleiben in Bereitschaft, aber zum Einkaufen kommt niemand.1 – Der DGB mobilisiert zu einem Protestmarsch gegen den Ladenschluss am Samstag, 27. März. Die dritte Kammer des Verwal-
tungsgerichts München verbietet wenige Stunden vor Beginn auf Antrag des Kaufhauses C&A die Demonstration. Trotzdem beginnt ein Marsch von etwa zweitausend Menschen in der Herzog-Wilhelm-Straße. Sechs Hundertschaften Polizei sind im Einsatz.2 Vor der Michaelskirche beginnen die Polizisten, mit Gewehrkolben auf die DemonstrantInnen einzuschlagen. Fünfundzwanzig Be-
rittene versuchen, die Menge auseinander zusprengen. Einige Demonstranten werden schwer ver-
letzt, dreiundfünfzig werden festgenommen. Ein Reporter: „Im Handumdrehen herrscht ein un-
beschreibliches Durcheinander. Ohne dass von dem Lautsprecherwagen der Polizei eine Warnung an die Menge zu hören war, rückt die Einsatzpolizei mit Gewehren vor und gerät stellenweise ins Handgemenge mit Demonstranten. In Bedrängnis geratene Beamte schlagen mit Gewehrkolben und Gummiknüppeln zu. Es gibt Leichtverletzte. Verhaftungen werden vorgenommen. Berittene Polizei sprengt in die Menge und drängt harmlose Passanten, die nicht ausweichen können, und Demonstranten an die Häuserwände. Auf beiden Seiten wächst die Erregung … Von einer planmä-
ßigen Aktion kann keine Rede mehr sein. Die Polizeibeamten sind erregt und verlieren vereinzelt die Selbstkontrolle.“3

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Am Samstag, 10. April, findet eine letzte Ladenschlussdemonstration statt. DAG und DGB haben dazu aufgerufen; 35.000 Menschen sind auf der Straße. Blasmusik spielt, die Gewerkschaften set-
zen Hunderte von Ordnern ein, flammende Reden werden gehalten. Der »Krieg« ist zu Ende.5

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Ganz links trägt bei der Demonstration am 10. April Konrad Kittl eine Tafel mit der Aufschrift „Für das verfassungsmäßig garantierte Demonstrationsrecht. Gewerkschaftlicher Arbeitskreis der Stu-
denten“. – Ein V-Mann des Verfassungsschutzes gibt zu Protokoll: „Bei der Räumung der Neuhau-
ser Straße und den sich dabei ergebenden Zwischenfällen und Schlägereien konnte der Berichter-
statter bereits zu[m] sound sovielten Male [!] feststellen, dass es sich immer um die gleiche Gruppe und Sorte von Personen handelt, die in der Hauptsache die Krawalle inszenieren. Es handelt sich dabei um KPD-Mitglieder, um junge Stenzen, gemeingefährliche hysterische Weiber und den übli-
chen Großstadt-Mob. Die anderen 90 % der Menge sind Neugierige, die sich teilweise diesen Ner-
venkitzel nicht entgehen lassen wollen. Was sich die Polizisten an gemeinen Zurufen alles von diesem Gesindel bieten lassen müssen, übersteigt jedes Mass.“7

„März: Bei den BMW-Werken in München-Allach werden vierzig Arbeiter, darunter zwei Betriebs-
räte, mit der Begründung fristlos entlassen, dass dies ‚im Interesse der Regierung der Vereinigten Staaten liegend für notwendig gehalten’ werde. – Die Entlassungsaktion löst unter der viertau-
sendsechshundert Beschäftigte zählenden Belegschaft große Beunruhigung aus. Etwa dreißig der Entlassenen, von denen einige seit mehr als zwanzig Jahren ohne Beanstandung bei BMW gear-
beitet haben, sind Mitglieder der IG Metall.“8

Am Ersten Mai sind neue eindrückliche Plakate zu sehen: „Samstags gehört Vati mir“. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert die Einführung der Fünf-Tage-Woche und eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden. Der Konflikt um die Meinungsführerschaft in der Arbeiter-
bewegung findet seine ersten Höhepunkte. Der sozialdemokratisch orientierte Führung der Gewerkschaften stehen die nicht wenigen kommunistischen Mitglieder der Gewerkschaften entgegen.9

„9. – 31. August: In Bayern kommt es zum längsten Streik in der bisherigen Geschichte der Bun-
desrepublik. Rund zweihunderttausend Metallarbeiter treten in einen dreiwöchigen Ausstand. Nachdem die IG Metall die Lohntarife bundesweit aufgekündigt hat und eine Lohnerhöhung von acht Prozent von der Seite der Unternehmer abgelehnt worden ist, haben sich am 29./30. Juli in einer Urabstimmung 90,4 Prozent der Metallarbeiter für einen Streik ausgesprochen. Sie fordern eine Erhöhung der Ecklöhne um zwölf Pfennig pro Stunde und der Gehälter um zwölf Prozent. Schon vom ersten Tag ihres Ausstandes an werden die Streikenden mit heftigen Worten von Vertretern der Landes- und der Bundesregierung angegriffen. So stellt der bayerische Minister-
präsident Hans Ehard (CSU) die Arbeiter als politisch ferngelenkte Unruhestifter hin: ‚Eine so schwere Störung des Arbeitsfriedens, wie es dieser Streik und in anderen Gegenden Deutschlands zur Zeit herrschende Streiks darstellen, wirft die Frage auf, ob letzten Endes es nicht uns allen wohlbekannte, von jenseits des Eisernen Vorhangs her gesteuerte politische Kräfte sind, die sich die in der Bundesrepublik ausgesprochenen Lohnkämpfe für die Ziele ihrer politischen Strategie zunutze machen wollen … Der Aufruf der Landesleitung Bayern der KPD lüftet die letzten Schleier.’ Am 18. August kommt es in München vor den Toren eines Zweigwerks der Firma Siemens & Halske zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Streikenden, Streikbrechern und der Polizei. Vier Hundertschaften werden eingesetzt, um den Arbeitswilligen Zugang zum Werk zu verschaffen. Doch die Streikposten wehren sich mit aller Kraft. Insgesamt tausend Arbeiter stehen auf ihrer Seite. Sie behalten in dem Handgemenge die Oberhand. Einige gehen auch mit Steinwürfen gegen die Polizisten vor. Dabei wird einer von ihnen schwer verletzt. Von den Streikbrechern sollen zwanzig Personen verletzt worden sein. Die Zahl der verletzten Streikposten wird nicht bekannt gegeben. Nach einer Reihe weiterer Zwischenfälle, bei denen Streikposten tätlich angegriffen, Streikbrecher eingeschleust und Zusammenstöße provoziert werden, unterbreitet der bayerische Arbeitsminister Richard Öchsle (SPD) am 27. August einen Kompromissvorschlag. Dieser sieht eine Erhöhung der Ecklöhne um zehn Pfennige pro Stunde und der Gehälter um fünf bis sieben Prozent vor. Obwohl sich 52,8 Prozent der Metallarbeiter am 30./31. August in einer Urabstim-
mung gegen eine Annahme des Schlichtungsergebnisses aussprechen, ist das Vermittlungsangebot damit angenommen. Um den Streik weiterführen zu können, hätten mindestens 75 Prozent der Arbeiter mit ‚Nein’ stimmen müssen. Damit ist der mit besonderer Erbitterung geführte Streik der bayerischen Metallarbeiter zu Ende. Beide Tarifparteien messen dem lang andauernden Lohn-
kampf eine exemplarische Bedeutung bei. Während die Unternehmer vor einer sich hochschrau-
benden Lohn-Preis-Spirale und deren angeblich inflationären Auswirkungen auf die Wertstabilität der deutschen Mark warnen, fordern die Gewerkschaften für die in ihnen organisierten Arbeiter einen erheblich größeren Anteil am ständig wachsenden Produktivitätszuwachs der Industrie. – Der Marburger Politikwissenschaftler Professor Wolfgang Abendroth verteidigt später, nachdem das Arbeitsgericht Kempten die Klage von fünf wegen ihrer Teilnahme am Metallarbeiterstreik fristlos Entlassenen abgewiesen hat, in einem Aufsatz das Recht der Arbeiter zur Aufstellung von Streikposten und zur Durchführung von Streikdemonstrationen.“10

Am 20. November demonstriert die Gewerkschaftsjugend gegen die „Pariser Verträge“.

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Münchner Gewerkschaftsjugend verteilt am 20. November Flugblätter.12

Siehe auch „Frieden“.

(zuletzt geändert am 16.1.2021)


1 Münchner Merkur vom 22. Februar 1954.

1 Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen.

2 Siehe „27. märz“.

3 Zit. in: Gerhard Fürmetz: Polizei, Massenprotest und öffentliche Ordnung: Großeinsätze der Münchner Polizei in den frühen fünfziger Jahren, in: Christian Groh (Hg.), Öffentliche Ordnung in der Nachkriegszeit, Ubstadt-Weiher 2002, 101 f. — 27 Fotos: Verbotene Ladenschluss-Demonstration am 27. März 1954, Standort: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Mappe 13b.

4 Der Spiegel 15 vom 7. April 1954, 6.

5 27 Fotos: Ladenschluss-Demonstration vom 10. April 1954, Standort: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Mappe 13c. – Vier Jahre später heißt es in der Zeitung der Münchner HBV, dem Münchner Ausblick 9/1958: „Das Ladenschluss-
gesetz ist am 9. November in das dritte ‘Lebensjahr’ eingetreten. Es waren, wie wir wissen, keine geruhsamen 2 Jahre, denn die Kräfte, die das Gesetz von Anfang an mit allen Mitteln zu verhindern suchten, waren seitdem eifrig bemüht, das Gesetz möglichst wieder abzuschaffen, es aber zumindest hinsichtlich der fortschrittlichen Regelungen zu verwässern.“ Siehe „10 Jahre Kampf um den Samstagladenschluss in München“, „Samstag gehört Vati uns“ von Sylvia Leicht und zusammenfas-
send Gerstenbergs „‚Verhältnisse untragbar’“.

6 Foto: Dix, Münchner Merkur 87 vom 12. April 1954, 1.

7 Zit. in: Gerhard Fürmetz: Polizei, Massenprotest und öffentliche Ordnung: Großeinsätze der Münchner Polizei in den frühen fünfziger Jahren, in: Christian Groh (Hg.), Öffentliche Ordnung in der Nachkriegszeit, Ubstadt-Weiher 2002, 95.

8 Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949 – 1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie. 4 Bde., Hamburg 1996, 949.

9 Siehe Fotos vom „ersten mai“.

10 Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949 – 1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie. 4 Bde., Hamburg 1996, 1024 ff. – „Die Unternehmer haben die Maske fallen lassen. Sie haben Zehntausende ‘Blaue Briefe’ verschickt. Und den gleichen Arbeitnehmern fristlos gekündigt, denen sie vor Tisch noch süße Worte von ‘mensch-
licher Verbundenheit’ und ‘sozialer Partnerschaft’ ins Ohr geflüstert haben. Mit brutalen Methoden des Klassenkampfes von oben, die schon ihre Vorgänger vor fünfzig und mehr Jahren auszeichneten, haben sie ihre ‘Mitarbeiter’ von gestern heute wie eine Ware auf die Straße geworfen. Das ist der Dank dafür, dass die Arbeiter und Angestellten für Hungerlöhne die Betriebe nach dem totalen Zusammenbruch, den die Unternehmer mit verschuldet hatten, wieder aufbauten.“ Streiknach-
richten der IGM-Bezirksleitung vom 12. August 1954. 9 Fotos: Streik der Metallarbeiter am 9. August 1954, Standort: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Mappe 11b. Und Foto: Streik der Metallarbeiter am 9. August 1954, Polizei versucht Streikbrechern den Weg freizuhalten, Standort: www.einestages.spiegel.de. Vgl. dazu auch Rainer Kalbitz: „Der Metallar-
beiterstreik in Bayern 1954“ in Gewerkschaftliche Monatshefte 9 vom September 2004, 559 ff. Siehe „Vor 41 Jahren: Der bayerische Metallarbeiterstreik 1954“.

11 Verschwörung gegen Deutschland, Die Pariser Verträge … Berlin (DDR) 1954, 177.

12 Siehe „Gewerkschaftsjugend zum Handeln entschlossen“ von Martius.