Flusslandschaft 1960
Kunst/Kultur
Im Frühjahr gibt eine ominöse Münchner Arbeitsgruppe »Kommunistische Infiltration und Machtkampftechnik« im Komitee »Rettet die Freiheit« eine Schrift mit dem Titel »Verschwörung gegen die Freiheit. Die kommunistische Untergrundarbeit in der Bundesrepublik« heraus. Autor ist der Siebenbürger Rumäne Hans Hartl, Mitarbeiter am Südostinstitut und Herausgeber des »Wissenschaftlichen Dienstes Südosteuropa«. Dieses »Rotbuch II« zählt die Namen von 452 Professoren, Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern auf, die einer »kommunistischen Kulturarbeit« bezichtigt werden. Unter ihnen sind die Physiker und Nobelpreisträger Max Born und Hermann Staudinger, die Pastoren Albrecht Goes und Martin Niemöller, die Komponisten Werner Egk und Carl Orff, die Maler Hans Purrmann und Otto Dix, die Theaterregisseure Heinz Hilpert und Peter Lühr sowie die Schriftsteller Erich Kästner und Wolfgang Koeppen.
BILDENDE KÜNSTE und AKTIONEN
Am 15. März beginnt die Genfer Abrüstungskonferenz, die bis in den Juni hinein andauert. Die Gruppe SPUR veröffentlicht ein Flugblatt.1 — Bei der 4. Konferenz der Situationistischen Inter-nationale (SI) in London im September lehnt die Gruppe SPUR die „Unterwanderung der Ar-beiterklasse“ ab, da diese nicht mehr revolutionär, sondern beliebig manipulierbar sei. Die SI müsse ihr Programm allein mit den zu mobilisierenden Künstlern Europas verwirklichen. Alle anderen Sektionen sind mit dieser Forderung nicht einverstanden. — Im Dezember nehmen Frank Böckelmann und Uwe Lausen, Initiatoren der Zeitschrift Ludus, Kontakt zur Gruppe SPUR auf. Siehe auch „Alternative Medien“.
Will Elfes ist einer aus der „verlorenen Generation“. Er entwirft ein Mahnmal für das Konzentra-
tionslager Dachau, das nie realisiert wird.2
Im Dezember veröffentlicht die Gruppe „Wir“ ihr Manifest.3
KABARETT
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Aus einem SPD-Wahlkampfkabarett 1958/59 entwickelt sich 1960 das Studentenkabarett Die Knallfrösche. Hannes Stütz, Ekkehard Kühn und Hans Kolo nennen es »Politerarisches Kabarett«. Beim zweiten Programm „Du seufzst, Amalie?“ stehen außerdem Marilis Brommund, Susi Weber und Manfred Vosz auf der Bühne. In der Pause spielt das Publikum mit aus Papier gestanzten, gefalteten „Knallfröschen“.
LITERATUR
Im Januar veranstalten die Münchner Kammerspiele „90 Minuten Kurt Tucholsky. Eine Matinee zu seinem 70. Geburtstag“. Thematisiert werden die alten Nazis, die immer noch da sind und der Muff der Adenauerzeit mit Wiederaufrüstung und Klassenjustiz. Es spielen Ursula Herking, Hanne Wieder, Helen Vita, Hans Schweikart, Günter Pfitzmann, Wolfgang Reichmann, Friedrich Hol-
laender, Werner R. Heymann, Jochen Breuer und Klaus Budzinski. Es spricht Erich Kuby.5
Einen nennen die Schwabingerinnen und Schwabinger immer wieder gerne den „Bürgermeister der Traumstadt“. Peter Paul Althaus dichtet hinreißende, liebevoll-surrealistische Oden auf sein „Wahnmoching“. Das hört man gern. Aber einmal wird es auch dem PPA zu viel. Er schreibt um 1960 einen Text, dessen Titel dreißig Jahre später in aller Munde ist, obwohl niemand mehr weiß, dass er von ihm ist.6
„Was habe ich hier verloren, / in diesem land, / dahin mich gebracht haben meine älteren / durch arglosigkeit? / eingeboren, doch ungetrost, / abwesend bin ich hier, / ansässig im gemütlichen elend, / in der netten, zufriedenen grube. // was habe ich hier? und was habe ich hier zu suchen, / in dieser schlachtschüssel, diesem schlaraffenland, / wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts, / wo der überdruß ins bestickte hungertuch beißt, / wo in den delikateßgeschäften die armut, kreide-
bleich, / mit erstickter stimme aus dem schlagraum röchelt und ruft: / es geht aufwärts! / wo eine gewinnspanne weit von den armen reichen die reichen armen / vor begeisterung ihre kinostühle zerschmettern, / da geht es aufwärts von fall zu fall, / wo die zahlungsbilanz hosianna und alles was recht ist singt / und ruft: das ist nicht genug, / daß die tarifpartner durch die straßen irren / und mit geballten fäusten frohlocken / und singen und sagen: // hier geht es aufwärts, / hier ist gut sein, / wo es rückwärts aufwärts geht, / hier schießt der leitende herr den leitenden herrn mit dem gesangbuch ab, / hier führen die leichtbeschädigten mit den schwerbeschädigten krieg, / hier heißt es unerbittlich nett zueinander sein // und das ist das kleinere übel, / das wundert mich nicht, / das nehmen die käufer in kauf, / hier, wo eine hand die andere kauft, / hand aufs herz, hier sind wir zuhaus, // hier laßt uns hütten bauen, / auf diesem arischen schrotthaufen, / auf diesem krächzenden parkplatz, / wo aus den ruinen ruinen sprossen, / nagelneu, ruinen auf vorrat, auf raten, / auf abruf, auf widerruf …“7
MUSIK
Heimatschnulzen und Schlagergedudel kennt man zur Genüge. Zum Glück gibt es eine musikalisch anspruchsvolle Subkultur, an die sich Karl Stankiewitz 64 Jahre später in seinem „Gedankenblitz 6“ vergnügt erinnert.8
ZEITSCHRIFTEN
Aus der Initiative Künstler gegen den Atomtod entstehen Anfang des Jahres die tendenzen, eine Zeitschrift für kritische Kunst und Kultur; dabei: Richard Hiepe.
Siehe auch „Umwelt“.
(zuletzt geändert am 1.3.2020)
1 Siehe „Gruppe S.P.U.R.: Ritus contra Depravation“.
2 Siehe „Mahnmal für Dachau“ von Will Elfes sowie Gerstenbergs „Das Knie allein blieb unverletzt …“.
4 Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
5 Siehe „Ganz ohne Tucholsky“ von Erich Kuby.
6 Siehe „Wir sind das Volk“ von Peter Paul Althaus.
7 Hans Magnus Enzensberger, Landessprache, Frankfurt am Main 1960, 7 f.