Flusslandschaft 1971

Kunst/Kultur

Siehe auch „SPD“ und „Zensur“.

FILM

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Am Freitag, 4. Juni, zeigt das undependent film center im Rottmann Kino in der Rottmannstraße 15 „Zwei Lieder zur Gitarre“ mit dem Wiener Aktionskünstler Otto Muehl.

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Dieses Flugblatt lädt zur Filmvorführung „Der geile Wotan“ ins independent film center für den gleichen Tag um 22.30 und 24.00 Uhr ein. Es ist schon 1971 beinahe unleserlich. Auf seiner Rück-
seite steht in Schreibmaschinenschrift: „OTO MUEL: REGRESSION – ich bin die einzige möglich-
keitsform des glücks und gleichzeitig ein symptom für das allgemeine unglück. Ich halte mich augenblicklich in münchen auf, weil ich in wien noch 24 tage abzusitzen hätte. Viele meinen ich sei eine private dreckschleuder, wenn das stimmt, so seid ihr alle kotfresser. – ich empfehle euch, euren scheißdreck nicht zu scheißen, sondern zu erbrechen. Dann bist du politisch. Redet ihr vom künstler, so ist einer gemeint, der nicht mit bomben und kugeln arbeitet, ich halte auch solche für künstler. Ich kenne keine künstler. – solche ohne chef und die übrigen arschlöcher mit einem chef als lebensaufgabe, im staatsdienst z.b. zum schluß als trottel in pension, samt gebrochenem rück-
grat ODER selbst chef von anderen, natürlich auch als lebensaufgabe, der juniorchef. – wer eine LEBENSAUFGABE hat, gibt eben sein leben auf, womöglich auf der post. Oder der marsch durch die institutionen, eine echte lebensaufgabe, meint arschloch röhl. – ES GIBT NICHTS ZU VER-
BESSERN AN EINER VERLORENEN PARTIE. – wir müssen begreifen, daß eben alles weg muß, auch der eiskasten. Wir müssen unsere mägen fit machen zum aasfressen, nicht umsonst ließ ich mir vor zwei jahren in frankfurt das maul vollscheißen, bitte, ich habe die scheiße erbrochen und niedergebunden war ich außerdem. Es ist training für die zukunft. Alles was ich mache, ich opfere mich sozusagen, weil ich der zeit voraus bin, wird den enkeln bereits vergnügen sein. Mich gibt es, weil es stinkt. Ich bin für die totale regression. – das unglück begann, als wir sesshaft wurden. – wer unterwegs ist, kann nicht aufgegriffen werden. – die tatsache, daß es filme gibt, zeigt, daß wir geisteskrank sind. – wenn ich morgens aufwache und um mich blicke, sei es auch wo immer, glau-
be ich, ich bin wahnsinnig. Das ist doch nicht möglich!“ (Muehl hat seinen Namen bewusst „falsch“ geschrieben.) — Gustl Dittrich besucht die Vorstellung um 22.30 Uhr. Ein halbes Jahrhundert spä-ter, am 30. April 2020, meint er: „An den Film kann ich mich nicht mehr erinnern, aber an die Ak-tion. Zwei nackte Männer kamen auf die Bühne und legten sich auf den Rücken, den Kopf in Rich-tung Publikum. Dann kamen zwei andere Typen, packten die Nackten an den Füßen und zogen so heftig daran, auch in Richtung Publikum, dass sich die Liegenden dermaßen krümmten und dabei fast imstande waren, ihr eigenes Geschlecht in den Mund zu nehmen. Das war das Ziel, laut ange-feuert vom Publikum. Beim Heimgehen dachte ich mir, das Flugblatt von dieser einmaligen Aktion musst du dir aufheben.“

Nach dem Vorbild des Verlags der Autoren gründen Filmemacher einen Verlag, der Produktion, Rechteverwertung und Vertrieb der eigenen Filme organisieren soll, den Filmverlag der Autoren. Erster Geschäftsführer ist Michael Fengler. Gründer sind: Pete Ariel, Hark Bohm, Uwe Brandner, Michael Fengler, Veith von Fürstenberg, Florian Furtwängler, Hans W. Geissendörfer, Peter Li-
lienthal, Hans Noever, Thomas Schamoni, Laurens Straub, Volker Vogeler, Wim Wenders und Rainer Werner Fassbinder. Allerdings kümmern sich die Filmemacher, die einen weltweiten Ruhm der Münchner Filmkunst begründen, nicht um die lukrativen Weltrechte. Nachdem Rudolf Aug-
stein (Der Spiegel) mit Millionen DM den Filmverlag unterstützt, kommerzialisiert sich dieser, verliert aber auch seine künstlerische Potenz.

BILDENDE KÜNSTE

1970 bekam der Kunstverein eine neue, progressive Führung. Seitdem sperrt das Kultusmini-
sterium seine Zuschüsse.3

„Der unter neuer, kollektiver Leitung arbeitende Kunstverein München stellte sich im März und April mit seiner ersten Ausstellung ,Sonntagsmalerei und § 117 der Bayerischen Verfassung’ vor. Die Ausstellung zeigt Arbeiten der Gilde der Münchner Sonntagsmaler, konfrontiert mit Modellen und Dokumentationen über die Zustände, die durch die Eigentumsverhältnisse, die Bodenspeku-
lation und die industrielle Umweltzerstörung in der von den Sonntagsmalern gefeierten Natur an-
gerichtet werden. Im Eingang der Ausstellung ein knallblauer, von Stacheldraht abgeschirmter See, über dem Wieland Sternagel, einer der neuen Geschäftsführer des Kunstvereins, ein wandgroßes ,Marterl’ mit dem Text der Bayerischen Verfassung (welcher den Missbrauch von Eigentum gegen öffentliche Interessen einschränken will) und der Darstellung eines ,einfachen Mannes’ malte, der vergeblich Marias Hilfe gegen die Umweltzerstörung erfleht.

Mit selbsterarbeiteten Dokumentationsausstellungen über öffentliche Mißstände will der Kunst-
verein künftig über die gewohnten musealen Absichten solcher Institutionen hinaus. In Vorbe-
reitung befindet sich eine Dokumentation ,Karikatur und politische Justiz – Der Fall Hachfeld’, in welcher die Verfolgung und geplante Ermordung des Westberliner Karikaturisten Hachfeld durch Strauß und die bürgerliche Justiz ausgewiesen wird. Das Bayerische Kultusministerium sperrte aufgrund dieser Initiativen vorläufig sämtliche Zuschüsse. Der neue Münchner Kunstverein steht mit einem Defizit von mehr als 20.000 DM und bei einem Mitgliederschwund auf der konservati-
ven Seite vor außerordentlichen Problemen, will aber durchhalten, zumal die öffentliche Ermun-
terung durch Hilfen der Stadt München und die Solidarität zahlreiche Künstler und Journalisten spürbar wird.“4

Vom 28. September bis zum 31. Oktober zeigt der Kunstverein die in der DDR zusammengestellte Ausstellung „Die ASSO und die revolutionäre bildende Kunst der 20er Jahre“. Stadträte der SPD und der CSU wollen die städtischen Zuschüsse für den Kunstverein nun ebenfalls annullieren. Nur Kulturreferent Dr. Herbert Hohenemser argumentiert für den Kunstverein.5

THEATER

Im April zeigen die Münchner Kammerspiele „Heimarbeit. Anti-dialogischer Szenenablauf in 20 Bildern “ von Franz Xaver Kroetz. Auf der Bühne „… versucht die Ehefrau Martha ihre bei einem Seitensprung empfangene Leibesfrucht vergebens mit einer Stricknadel abzutöten. Nach der Ge-
burt ertränkt ihr Mann (er hinkt seit einem Verkehrsunfall) das Baby im Bad. Soviel detailliert in-
szenierter Sexual-Realismus – die Zuschauer sahen auch eine Masturbation – provozierte den Münchner CSU-Stadtrat Winfried Zehetmeier schon vor der Kammerspiel-Uraufführung zum Protest gegen das Stück ‚ohne künstlerische Qualitäten‘. In der Premiere warfen daraufhin De-
monstranten mit Stinkbomben. Solche ‚hilflosen, blinden Aktionen‘, ein ‚erschreckendes Spiegel-
bild‘ (‚Süddeutsche Zeitung‘) der Bühnenvorgänge, bestätigten freilich nur die Intentionen des Autors. ‚Mein Schreibansatz‘, sagt er, ‚ist das Mitleid mit den Leuten, die mich umgeben‘. Es sind Leute, die sich nicht artikulieren können – ‚Beschädigte‘, so Kroetz, ‚deren Sprache nicht mehr funktioniert‘. Die ‚Priorität des Dialogs‘ ist für den Theaterpraktiker folglich ein ‚Vorurteil‘. Ebenso wichtig wie die gestammelten Sätze (‚Du verstehst nix‘ – ‚Dann mußt still sein‘) sind ihm die aus der Sprachlosigkeit resultierenden Untaten, Gesten und vor allem die Pausen. Die Pausen dauern laut Regievorschrift oft ‚drei Minuten, bis das erste Wort fällt‘, und dehnen etwa die 29 Drucksei-
ten der ‚Heimarbeit‘ auf der Bühne zu einer Aufführung von mindestens 90 Minuten Länge aus. Dass derart langwierige – nicht langweilige – Text-Darbietungen den Autor mit dem Makel eines Bühnen-Esoterikers belasten könnten, ist ihm selbst inzwischen bewusst. Es schmerzt ihn. Denn Kroetz will ‚kein Kulturpinsel‘ sein, der sich von den Abonnenten des ‚privat elitären Kunstgenus-
ses ins Experimentiertheater, in den Keller‘ abdrängen lässt. Kroetz will ‚Volkstheater‘ machen …“6

Nach der Aufführung des „Räuber Kneißl“ von Martin Sperr am 20. April beschwert sich der CSU-
Abgeordnete Handlos: „Geschmacklosigkeit, Geschichtsverfälschung“.

Gerhard Polt und Hanns Christian Müller gründen die Tourneetruppe Montage Theater München (MTM). Das erste Stück, das sie aufführen, heißt „Wer beschiss Salvatore G.?“7

Das Münchner Theaterkollektiv (theater k) um Wolfgang Anraths zeigt „Lehrlingsübungen“, „Das Mietenmonstrum“ und „Der Boss sind wir“. Die Gruppe Transparent versucht sich im Straßen-
theater und scheitert.8

MUSIK

Achim Bergmann, seit 1967 aktiv im Trikont Verlag in der Josephsburgstraße 16, gründet hier ein eigenes Musiklabel Trikont — Our Own Voice, das auch 2013 noch sehr lebendig ist.9

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Die Schallplattenhülle stammt von Ulrich Eichberger.

(zuletzt geändert am 18.4.2021)


1 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

2 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

3 Siehe „Presseinformation des Münchner Kunstvereins“.

4 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 75/76 vom Juni/Juli 1971, 150.

5 Siehe „asso“.

6 Der Spiegel 24 vom 17. Juni 1971, 150.

7 Vgl. Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 244.

8 Siehe „Plakatives Theater“.

9 Siehe „Unsere Wurzeln, unsere Stimmen“ von Julian Weber.

10 Privatsammlung