Flusslandschaft 1974
Militanz
Blatt-Karikaturist Gerhard Seyfried schreibt Jahre später ein Buch, in dem er die alternative Szene in München schildert und dabei die erbittert geführten Diskussionen um die Gewaltfrage themati-
siert. Seyfrieds Karikaturen befinden sich auch in den Untergrund-Postillen der in Agonie liegen-
den DDR der letzten Jahre vor 1990. Ein DDR-Bürgerrechtler beschreibt seine Eindrücke von Sey-
frieds Buch.1
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Gerhard Seyfried in einer Polizeikontrolle
Die Behörden haben Roland Otto, der wegen eines Bankraubs zu vier Jahren und vier Monaten Jugendstrafe verurteilt worden ist, Hafturlaub gegeben. Sie beschatten ihn in der Hoffnung, dass er Kontakte zu ehemaligen Genossen aufnimmt. Otto taucht unter. Bei Ottos Freundin Gertraud Will, die am 24. April verhaftet wird, findet die Polizei einen Brief, der eine vage Verbindung zu dem Taxifahrer Günter Jendrian herstellt. Am Montag, den 20. Mai um 3 Uhr morgens, stürmt die mobile Einsatztruppe die Wohnung in der Adalbertstraße 10 in Schwabing und erschießt Jendri-
an.3 Am 24. Mai demonstrieren etwa hundertfünfzig Mitglieder der KPD, des Kommunistischen Studentenverbandes (KSV) und der Roten Hilfe gegen die Ermordung von Jendrian. Wer in den folgenden Wochen in diesem Zusammenhang den Begriff „Mord“ verwendet, wird angezeigt.4
„800 menschen kamen am, dienstag, 11. juni im schwabingerbräu zusammen, um am jendriantri-
bunal teilzunehmen. ergebnisse kamen keine zustande. was muss eigentlich geschehen, um die linke aus ihrer jetzigen schlappheit herauszureissen? Sind wir denn bereits derart an grausamkei-
ten des staatsapparates gewöhnt, derart in ängstlichkeit um die eigene haut verfangen, dass wir der in deutschland wiedereingeführten todesstrafe durch exekutionskommandos lediglich mit streit um splittertheorien gegenübertreten? – menschen werden unter dem vorwand von ordnung und gesetz mit maschinengewehren niedergemetzelt und wir quälen uns damit ab, bei irgendeinem altmeister eine theorie aufzustöbern, im papier zu kramen und scharfe zungen zu wetzen. zugege-
ben: wir sind in einem getto spitzfindigster paragraphen und verbote bis zur regungslosigkeit ein-
gepfercht. angesichts dieser tatsache rückt mir die höchst ungemütliche annahme in die nähe, nur noch jenseits von beschränkung und verbot wirkunssvoll deutschlands neue todesstrafe bekämpfen zu können.“5
„WIDERSPRÜCHLICHKEITEN – ministerialrat dr. hubert dietl von der vollzugsabteilung des justizministeriums: ‚wir sahen keinen grund, otto deswegen, weil er seine straftat politisch moti-
vierte, anders zu behandeln als andere gefangene und ihm urlaub aus der haftanstalt zu versagen.‘ vergleiche diese aussage mit dem abgebildeten faksimile eines ablehnungsbescheides, wie er un-
zählige gefangene genossen erreicht! staatsanwalt fendt meint: ‚dass man otto vier wochen lang nur observiert, ohne zuzugreifen, glaube ich nicht. im übrigen kann bei der staatsanwaltschaft hinsichtlich des falles jendrian in keinster weise von verschleierung und vertuschung – wie dies roland otto in seinem brief behauptet – die rede sein. wir haben alles offen dargelegt.‘ vergleiche dazu die fakten, wie sie im 24. blatt zu jendrians erschießung geschildert wurden! die polizei be-
merkt zu fendts spruch mit entlarvender offenheit: ‚außerdem ist die observierung eines verdäch-
tigen ein legitimes rechtsmittel.‘ wird jemand verdächtig, indem er aus dem knast entlassen wird, damit die polizei erst dadurch einen verdächtigen jagen kann? merkwürdige praxis! staatsorgane als lügner, mörder, verbrecher zu bezeichnen ist strafbar.“6
Für Gertraud Will, die seit Anfang der Siebziger Jahre in der Münchner Roten Hilfe mitarbeitete, gilt ihre Solidarität „den Bankenteignern, mit denen ich etwas mehr zu tun hatte als mit denen, die durch die Institutionen gingen“. Ihre Beteiligung an der politischen Gefangenenarbeit bleibt nicht folgenlos: „Diese Arbeit auf einer sehr breiten Basis war natürlich etwas, das vom System her nicht getragen werden konnte, und das dazu führte, dass die damalige Rote Hilfe, der ich auch angehör-
te, systematisch kriminalisiert wurde. Anlass meiner Verhaftung war der Vorwurf der Gefangenen-
befreiung: ich hätte eine Kamera nach Straubing geschmuggelt, mit der Aufnahmen über die Zu-
stände im Knast gemacht wurden, und mein Verlobter, der damals Knasturlaub hatte, wäre nicht zurückgekommen — also Unterstützung eines Gefangenen.“7 Dafür sitzt sie allein mehr als zwei Jahre in Untersuchungshaft.8 — Am 9. Mai 1975 geraten Roland Otto, Karl-Heinz Roth und Wer-ner Sauber in Köln in eine Polizeikontrolle. Es kommt zu einer Schießerei, bei der Werner Sauber und der Polizist Walter Pauli getötet werden. Ein weiterer Polizist wird angeschossen, Roth selbst lebensgefährlich verletzt.9 Die Fahndungen ziehen Kreise und haben auch für andere Konsequen-zen.10
Immer wieder berichten Täterinnen und Täter, wenn sie dann noch berichten können, dass sie angesichts der Häufung struktureller Gewalt irgendwann die Contenance verlieren und dann ausrasten. Dass ihre verloren gegangene Selbstzucht keinen Grund für Strafunmündigkeit bietet, leuchtet ein.11
„PROZESS. riesenfeldstrasse gegen maike r. wurde verschoben. er findet jetzt am freitag, 28. juni, im amtsgericht, pacellistraße 2, zimmer 128 statt. maike r. wird von der staatsbehörde vorgewor-
fen: widerstand gegen die staatsgewalt, landfriedensbruch, körperverletzung. beginn: 8.00 Uhr.“12
Die Rote Hilfe um Helmut Strobl und Jimmy Vogler hat viel zu tun. Kaum einer in der Szene, der nicht einen Prozess am Hals hat. Zugleich befinden sich einige clandestini in München, die vor den Behörden in Italien geflohen sind. Christine Dombrowsky beschreibt die Hilflosigkeit und die ohn-
mächtige Wut, die viele Aktivisten ergreifen.13
Während des Hungerstreiks der politischen Gefangenen engagieren sich im Komitee gegen die Iso-
lierhaft zeitweise neben den Müttern von Andreas Baader und Rolf Pohle auch die Filmemacher Volker Schlöndorff und Alexander Kluge, die Schauspielerin Margarethe von Trotta und der Fuß-
baller Paul Breitner gegen „den terroristischen Charakter des Strafrechtssystems“. — Am 9. No-vember stirbt der seit mehr als zwei Jahren inhaftierte Untersuchungshäftling Holger Meins in der Haftanstalt Wittlich an den Folgen seines Hungerstreiks. Am 11. November demonstriert der Kom-munistische Bund Westdeutschlands (KBW) wegen des Todes von Meins.14
Siehe auch „CSU“ und „Hausbesetzungen“.
(zuletzt geändert am 22.8.2021)
1 Siehe „Terroristen — Bullenstaat — Freaks“ von Dirk Moldt.
2 Fotosammlung „Blatt, Basis, Trikont …“, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
3 Siehe „Wer auf der Strecke bleibt …“.
4 Siehe „Die strafrechtliche Verfolgung politischer Meinungsäußerungen in der Bundesrepublik Deutschland“ von Hartmut Wächtler (1976).
5 Blatt. Stadtzeitung für München 25 vom 14. Juni 1974, 6.
6 A.a.O. — Siehe den Brief von Roland Otto „„… das ist Faschismus““ an Staatsanwaltschaft und Presse vom Anfang Juni 1974.
7 Gertraud Will, Diskussionsbeitrag, in: H. Brenner (Hg.), „Wird Zeit, dass wir leben", Siebtes Bremer Literaturgespräch: Gefangenenzeitungen, Trakt im Normalvollzug. In: alternative 134/1981, Berlin, 126 f.; siehe „Lieber Hartmut“ von Christine Dombrowsky.
8 Siehe „Mordversuch??“.
9 Siehe „Wer ist Roland Otto?“.
10 Siehe 31. März in „Bürgerrechte“ 1976.
12 Blatt. Stadtzeitung für München 26 vom 28. juni 1974, 3.
13 Vgl. Interview Hella Schlumberger mit Christine Dombrowsky im Januar 1993, zwei Kassetten im Archiv 451 im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.
14 Vgl. Süddeutsche Zeitung 262/1974.