Flusslandschaft 1978

Gewerkschaften/Arbeitswelt

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- DGB

- Druckindustrie
- Siemens und AGFA


ALLGEMEINES

Der Neuhauser Artur Troppmann (1930 – 1997), Gummiarbeiter, Bauarbeiter, Dekorateur und Arbeitsinvalide beschreibt in Gedichten und Erzählungen die Not und die Nöte von Nachbarn
und Kollegen. Mit seiner dezidiert politischen Einstellung hat er keine Chance in den etablierten Medien.1

Arbeitslose Jugendliche eröffnen Anfang Mai in einem ehemaligen Pelzgeschäft in der Schulstraße 31 in Neuhausen das »Begegnungs- und Beratungszentrum für jugendliche Arbeitslose«. Und das Amt für Industrie- und Sozialarbeit der Evangelischen Kirche eröffnet in der Meiserstraße 11, drei Minuten vom Stachus entfernt, ein weiteres Arbeitslosen-Zentrum.

In der Umkleide einer Münchner Großbäckerei hängt im September ein Zettel mit der Aufschrift „Man muß zwar nicht ausgesprochen blöd sein um hier zu arbeiten, aber es erleichtert die Sache ungemein“.

DGB

Die Quartalsschrift des DGB-Kreises München veröffentlicht nach der Stadtratswahl einen Gast-
kommentar des Chefredakteurs des Münchner Stadtanzeigers. Dies löst Proteste aus.2

Am 30. April spielen beim Fest der DGB-Jugend im Salvatorkeller am Nockherberg die Schmet-
terlinge
ihre „Proletenpassion“. Vor dem Abschnitt, der die Oktoberrevolution behandelt, meint ein Mitglied der Truppe, man sei sich intern uneins über die Bewertung der Rolle der Kommuni-
stischen Partei bei der Revolution. Einige anwesende Kommunisten protestieren, im Ganzen aber ist die Veranstaltung im überfüllten Saal ein Riesenerfolg.

Fünftausend Menschen sind beim Ersten Mai auf dem Marienplatz. Das Motto lautet „Recht auf Arbeit – Zukunft sichern“. – „Der AK ‘Emanzipation von Mann und Frau’ der Humanistischen Union machte auf der Maikundgebung – gemeinsam mit dem Frauenforum München – mit Flug-
blättern und Transparenten auf die Diskriminierung der Frauen in Erwerbsleben und Familie aufmerksam. In ihrer Ankündigung und in ihrem Bericht zum 1. Mai wurde in der Süddeutschen Zeitung die HU mit ihrer Aufforderung an den DGB zitiert, die Gesetzesinitiative für ein Antidis-
kriminierungsgesetz zu unterstützen.“3 Nach der Kundgebung findet eine Demonstration von siebenhundert Menschen statt, zu der der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD und der Bund türkischer Arbeiter aufgerufen hat. Der Arbeiterbund veranstaltet im Anschluss mit einigen Ausländergruppen noch ein Mai-Fest, zu dem etwa fünfhundert Menschen kommen.


DRUCKINDUSTRIE

Immer neuere, bessere, spezialisiertere Maschinen entstehen. Die neue Lichtsatztechnik macht Schriftsetzer überflüssig und dequalifiziert sie zu Hilfsarbeitern. Der seinem Ende entgegen gehen-
de Fordismus4 entwertet Facharbeiterqualifikationen und beschleunigt die Prekarisierung. In den letzten fünf Jahren sind zwar die Umsätze der Druckindustrie von 9,6 auf 14,8 Milliarden DM ge-
stiegen, im selben Zeitraum sind aber auch 35.000 Arbeitsplätze vernichtet worden. Und während der Lohnkostenanteil am Umsatz in der Druckindustrie von 37,1 Prozent auf 32,8 Prozent gesun-
ken ist, ist die Produktivität der menschlichen Arbeit erheblich gestiegen.

Am 27. Februar kommt es zur Urabstimmung beim Süddeutschen Verlag (Süddeutsche Zeitung, Abendzeitung, 83,1 Prozent) und im Buchgewerbehaus (Bild-Zeitung, 98,9 Prozent). Noch hat
die IG Druck und Papier die Kolleginnen und Kollegen im Münchner Zeitungsverlag (Münchner Merkur, tz) nicht zum Streik aufgerufen. Am 28. Februar um 6 Uhr in der früh beginnt der Streik bei der Süddeutschen Zeitung und bei der Abendzeitung. Als dann die Verleger der bestreikten Zeitungen im Münchner Zeitungsverlag eine Notausgabe drucken lassen wollen, verweigern sich dort die Setzer und Drucker. Der Münchner Zeitungsverlag macht aus Unternehmersolidarität seine Pforten dicht und sperrt seine Belegschaft aus. In der Bevölkerung überwiegt die Zustim-
mung zum Streik.

6. März: In einem Protestmarsch der IG Druck und Papier marschieren über zweitausend Drucker und Setzer vom Sendlinger Tor aus durch München. Bei der Schlusskundgebung im Hofbräuhaus am Platzl um 13 Uhr nennt der Vorsitzende der IG Druck und Papier, Mahlein, den Druckerstreik den wichtigsten Streik in der deutschen Arbeiterbewegung. Sprechchöre feuern ihn an. Während Mitglieder der Gewerkschaft das Informationsblatt Drupa leserservice verteilen, informiert die Arbeitgeberseite mittels der „‚Streikbrecher-Postille’ München aktuell“. „Am Rande vom Zeitungs-
streik betroffen sind auch die Marktfrauen und die Kunden auf dem Viktualienmarkt. Nach Beob-
achtungen erhalten am 7. März meist nur noch Stammkunden das gekaufte Gemüse in Zeitungs-
papier eingewickelt.“5

Mit vier Seiten erscheint die „Gemeinsame Ausgabe der fünf Münchner Zeitungen, Montag, 20. März 1978“. Dazu heißt es: „Zum dritten Male können wir Ihnen heute nur dieses gemeinsame Informationsblatt … bieten. Grund dafür sind die bei Redaktionsschluß noch immer nicht been-
deten Tarifauseinandersetzungen in der Druck-Industrie …“ Herausgeber sind Süddeutsche Zei-
tung
, Münchner Merkur, tz, AZ, Bild. Die Artikel behandeln u.a. die Entführung des Aldo Moro, die durch den Untergang des Tankers „Amoco Cadiz“ verursachte Ölkatastrophe und die israeli-
sche Offensive im Libanon.

21. März: „Gestern ging der längste und härteste Arbeitskampf der deutschen Nachkriegszeit zu Ende, nachdem sich die Unternehmerverbände und die Industriegewerkschaft Druck und Papier in Bonn über einen neuen Tarifvertrag einigten. Heute erschienen endlich wieder die Zeitungen. Die Süddeutsche Zeitung, die als erste vom Streik betroffen wurde, erschien genau einundzwanzig Tage lang nicht mehr. Der Münchner Wirtschaft entstanden durch die Auseinandersetzungen in der Druckindustrie Umsatzausfälle in Millionenhöhe … Nutznießer des Arbeitskampfes waren eine Reihe von kleinen Druckereien, die allerlei Informationsblätter produzierten. In der letzten Streik-
woche produzierte ein Student zwanzigtausend Exemplare einer Notzeitung, ‚Münchner Nachrich-
tendienst’, von denen er siebzehntausend zum Preis von 50 Pfennigen absetzte.“6

„Als Rentner, dessen Lieblingsbeschäftigung das tägliche gründliche Studium Ihres Blattes ist, bin ich durch den Streik hart betroffen. Abgesehen, dass mir die primitivsten Informationen, und seien es auch nur die Lottoquoten, vorenthalten werden, oder aber die Sportberichte oder z. B. die Wahl-
informationen usw. usw. Es gibt eben keinerlei Ersatz für eine nicht gelieferte Zeitung. Und das schlimmste daran ist, dass ich als Leser so völlig machtlos bin gegen diese Vergewaltigung.“7 – Das Ergebnis: „Tarifvertrag über Einführung und Anwendung rechnergesteuerter Textsysteme in der Druckindustrie (gültig ab 1. 4. 1978) (Auszug): § 2 Arbeitsplatzsicherung (1) Im rechnergesteuer-
ten Textsystem werden Gestaltungsarbeiten und Korrekturarbeiten, das heißt a) Gestaltung nicht standardisierter Anzeigen, b) Anzeigenseitenumbruch, c) Anzeigenseitenschlusskorrektur, d) Bildschirmkorrektur, jedoch mit Ausnahme der mit dem Redigieren verbundenen Korrekturvor-
gänge, e) Textseitenumbruch für einen Zeitraum von acht Jahren nach Umstellung der jeweiligen Tätigkeit durch geeignete Fachkräfte der Druckindustrie, insbesondere Schriftsetzer, ausgeübt…“

Einige Jahre später schreibt der Münchner Gewerkschafter Knut Becker (9.12.1939 – 24.7.2015) ein Gedicht.8

SIEMENS und AGFA

Unterschiedliche Wahlmodalitäten verursachen unterschiedliche Wahlergebnisse. Persönlich-
keitswahl bei Betriebsratswahlen schickt engagierte Kolleginnen und Kollegen in das Gremium. Eine Listenwahl dagegen bevorzugt diejenigen, die als erste auf der Liste, die die Gewerkschaft erstellt hat, stehen. Bei Siemens stehen diesmal zwei weitere, unter ihnen eine unternehmer-
freundliche, Listen zur Wahl, worauf die IG Metall ebenfalls nur noch eine Liste aufstellt, was zur Folge hat, dass eine weitere, alternative IG Metall-Liste entsteht, die immerhin 34 Prozent der Stimmen erringt, deren Mitglieder aber mit einem Gewerkschaftsausschluss rechnen müssen.9
Bei den Betriebsratswahlen bei AGFA erhält die alternative, basisdemokratische Liste „Agfa-Runde“ erstaunliche 27 Prozent der abgegebenen Stimmen.

(zuletzt geändert am 5.6.2020)


1 Siehe „Nach zwei Infarkten“ von Artur Troppmann.

2 Siehe „Leserbrief“ von Peter Neissendorfer.

3 Mitteilungen der Humanistischen Union 83 vom Juni 1978, 22.

4 Der Fordismus (Bezeichnung nach Henry Ford) basiert auf stark standardisierter Massenproduktion und -konsumtion, mit Hilfe hoch spezialisierter, monofunktionaler Maschinen, auf Fliessbandfertigung und auf dem Taylorismus, der die Arbeit in kleinste Einheiten aufspaltet und mit Hilfe einer geschickten Prozess-Steuerung von Arbeitsabläufen den größten Nutzen aus der menschlichen Arbeitskraft zieht. Der Fordismus bedient aber auch die Massenkonsumtion und strebt die sogenannte Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitern und Kapitaleignern an.

5 Stadtchronik, Stadtarchiv München.

6 A.a.O.

7 Süddeutsche Zeitung vom 22. März 1978, 15.

8 Siehe „Streikrecht“ von Knut Becker.

9 Siehe „Siemens“.