Flusslandschaft 1980

Rechtsextremismus

8. März: Unverdrossen verteilt das Anti-Strauß-Komitee Flugblätter an seinen Informations-
ständen und erlebt den alltäglichen Faschismus hautnah.1

19. März: „Die VVN bittet die Geschäftsleitung der Torggelstuben in einem Brief, … eine [dort geplante] Veranstaltung von mehreren neonazistischen Organisationen zu verhindern. Als Red-
ner soll unter dem Motto ‚Die Ehre des deutschen Soldaten – Antwort auf die Lügenhetze’ Eichen-
laubträger Oberst a.D. Walter Dahl auftreten. In dem Brief schreibt die VVN, bei den Veranstal-
tern handle es sich um Organisationen, die in ihren Publikationen versuchten, das Nazi-Regime
zu rehabilitieren oder gar zu verherrlichen.“ Am 22. März berichtet die Chronik: „Zum erstenmal versammeln sich mehrere rechtsradikale Organisationen in einem Haus, das dem Freistaat Bayern gehört. In den Torggelstuben nehmen rund zweihundert Personen an einer mehrstündigen Ver-
sammlung teil.“2 Zwar weist das Finanzministerium den Gaststättenpächter an, den Mietvertrag mit der Deutschen Volksunion (DVU) aufzuheben, doch sagt dieser die Veranstaltung aus Angst vor drohenden Schadensersatzforderungen nicht ab. Das Finanzministerium sieht deshalb die Schuld am Stattfinden des Treffens beim Wirt. Beide Seiten einigen sich schließlich darauf, die eingenommene Saalmiete einem wohltätigen Zweck zukommen zu lassen.

Bernhard Ücker ist bekannt für seine zugespitzten Kommentare im Bayerischen Rundfunk (BR). Einen gibt er gleich auch noch im Münchner Stadtanzeiger vom 14. August zum Besten: „Das haben uns die Umweltschützer gelehrt: Dass nämlich ein See, wenn ihm über ein gewisses Maß hinaus Fremdstoffe zugeführt werden – dass er dann, wie die Fachleute sagen, eines Tages um-
kippt und so für den Menschen, aber auch für seine ursprüngliche Tier- und Pflanzenwelt vom freundlichen zum feindlichen Gewässer wird. Das, wie gesagt, wissen und lehren unsere Umwelt-
schützer. Wir jedoch sollten allmählich begreifen, dass auch ein Land oder Volk nur bis zu einer bestimmten Grenze mit Fremdstoffen belastbar ist und, wenn diese Grenze missachtet wird, ebenso in die Gefahr des Umkippens gerät. Für die Einheimischen verwandelt sich dann die Heimat in ein verfremdetes Zuhause, die jedem Volk innewohnende Aufnahmebereitschaft dem Fremden gegenüber ändert sich in beginnende Abwehr und ein Übersehen dieses Alarmzeichens führt schließlich zur Feindseligkeit, ja zum Fremdenhass – oder kippt auch um in Resignation mit all ihren negativen Folgen für die Zukunftsbewältigung eines Volkes.“3 Rechtsanwalt Hubert Heinold erstattet im Auftrag zweier Mandanten Strafanzeige wegen Volksverhetzung und Belei-
digung gegen Ücker, den Intendanten des BR und den Herausgeber des Stadtanzeigers.

22. August: „Die für den 30. August geplante NPD-Kundgebung auf dem Marienplatz wird von der Stadt nicht verboten. Die Stadt sieht für ein Verbot keine Möglichkeit, da die NPD eine erlaubte Partei sei, die sich mit einer Landesliste an der Bundestagswahl beteilige.“ Am 30. August finden sich auf dem Marienplatz „zu einer Wahlkundgebung der NPD ca. dreihundert Parteianhänger ein, denen rund dreitausend NPD-Gegner gegenüberstehen. Die Kundgebung, deren Verbot am Spruch des Verwaltungsgerichts scheiterte, verläuft, von schrillen Pfeifkonzerten und einem wahren Eier-
hagel, der auf den Hauptredner niedergeht, abgesehen, ohne die befürchteten Ausschreitungen. Rund fünfhundert mit Schutzhelmen und Schutzschildern ausgerüstete Polizisten machen von vornherein deutlich, dass Randalierern keine Chance gegeben wird.“4 Eine Gegenveranstaltung findet vor der Feldherrnhalle statt.5

Am 26. September 1980 um 22.19 Uhr explodiert in einem Papierkorb am Haupteingang des Oktoberfest an der Brausebadinsel (im Volksmund immer noch „Tröpferlbad“ genannt) eine Rohrbombe. Dreizehn Menschen werden getötet, zweihundertelf verletzt, achtundsechzig von ihnen schwer. Am 30. September legt ein Großteil der Münchner Beschäftigten von 16.00 bis 16.05 die Arbeit nieder. Der öffentliche Verkehr stoppt um 16.00 Uhr für eine Gedenkminute. Die Ge-
werkschaft Erziehung und Wissenschaft
(GEW) setzt über den Stadtschulrat beim Kultusmini-
sterium durch, dass in den meisten Münchner Schulen am Tag der offiziellen Trauerfeier des Anschlags gedacht wird. Die DGB-Jugend veranstaltet eine Kundgebung.6 Seit diesem Datum kommt es jedes Jahr zu Demonstrationen und Mahnwachen gegen den Rechtsextremismus. – Der Bombenanschlag fiel in die letzten Wochen des Bundestagswahlkampfs. Bereits am 27. September griff CDU/CSU-Kanzlerkandidat Franz-Josef Strauß in der Bild am Sonntag (BamS) die regieren-
de sozialliberale Koalition scharf an. Vor allem Innenminister Gerhart Baum habe durch liberale Vorgaben an die Sicherheitsdienste effektive Ermittlungen behindert und so die ungestörte Vor-
bereitung des Attentats ermöglicht. Von Regierungsseite wurde der Opposition im Gegenzug eine Unterschätzung der rechtsextremen Gefahr vorgeworfen.7 Am 5. Oktober meint er in der BamS: „Neun Tage nach dem Bombenattentat auf ahnungslose Besucher des Münchner Oktoberfests führt die Spur auf der Suche nach den Hintermännern über den Libanon zum sowjetischen Ge-
heimdienst KGB.“

Das Wiesn-Attentat löst in der Redaktion des Blatt Kontroversen aus. Die einen würden gerne den Schwerpunkt der kommenden Ausgabe auf antifaschistische Theorie und Praxis legen, andere be-
schäftigt der Zusammenhang zwischen hoher Politik, Terror und Mainstreammedien, wieder ande-
re schlagen vor, der überall mit Händen zu greifenden Depression in der linksalternativen Szene Ausdruck zu verleihen. Letztere setzen sich durch. Es erscheint eine Zeitung mit kurzem Vorwort, einem Gedicht, einem nachdenklichen Artikel und mit vielen leeren Seiten, auf denen nur einige bezahlte Anzeigen zu sehen sind.8

Bundesanwaltschaft und das bayerische Landeskriminalamt stellen 1982 die Ermittlungen ein, nachdem sie „festgestellt“ haben, dass der Rechtsextremist Gundolf Köhler als Einzeltäter gehan-
delt habe. Viele zweifeln dieses Ergebnis an. Köhler hatte Verbindungen zur rechtsextremen „Wehrsportgruppe Hoffmann“.9 Ignaz Platzer, der Vater von zwei kleinen Kindern, die beim Attentat starben, meint: „Lange habe ich darum gekämpft, um endlich zu erfahren, wer oder welche Attentäter es wirklich waren. Ich musste jedoch lernen, dass man mir darauf nie eine ehrliche Antwort geben wird … Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich nur Ärger ein-
handelt, wenn man insistiert.“10 –- Ein breites Bündnis aus Organisationen, Gewerkschaften und Einzelpersonen, darunter mehrere Münchner Stadträte sowie Landes- und Bundespolitiker der SPD, setzt sich zum 25. Jahrestag des Anschlags 2005 erneut für eine Wiederaufnahme der Er-mittlungen ein, jedoch ohne Erfolg.

Im Kunstverein in der Galeriestraße wird die Ausstellung „Widerstand statt Anpassung“ gezeigt. Im Eingangsraum zur Ausstellung wird das Veranstaltungsplakat beschädigt und mit Haken-
kreuzen beschmiert.11

Siehe auch „Stadtviertel“.

(zuletzt geändert am 16.4.2020)


1 Siehe „Am 8. März 1980 …“ von Heinz Jacobi.

2 Stadtchronik, Stadtarchiv München.

3 Zitiert in Blatt. Stadtzeitung für München 180 vom 12. September 1980, 8.

4 Stadtchronik, Stadtarchiv München.

5 Stadtarchiv, Zeitgeschichtliche Sammlung 516/14. Foto: „Nazis raus aus München“, Kundgebung vor der Feldherrnhalle, Standort: Stadtarchiv München und: Hannelore Kunz-Ott/Andrea Kluge (Hg.), 150 Jahre Feldherrnhalle. Lebensraum einer Großstadt, München 1994, 73.

6 4 Fotos: Kundgebung der DGB-Jugend zum Oktoberfest-Attentat, Standort: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Mappe 1.

7 Vgl. Ulrich Chaussy, Oktoberfest. Ein Attentat, Darmstadt/Neuwied 1985.

8 Siehe „Manchmal werfen Schatten auch ihre Ereignisse voraus …“ und „Die Bombe und das Volksfest“ von Lothar.

9 Siehe „30 Jahre Oktoberfest-Attentat“. Vgl. Andrea Röpke/Andreas Speit (Hg.), Blut und Ehre. Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland, Berlin 2013, 50 f.

10 Süddeutsche Zeitung vom 27. September 1996, 39.

11 Vgl. tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 133 vom Januar 1981, 75.