Flusslandschaft 1981
Stadtviertel
Die Proteste gegen den Bau des Rangierbahnhofs in Allach werden immer lauter.1
Am 21. Februar demonstrieren Giesinger Bürger für die Erhaltungssatzung ihres Viertels.2
Am 20. März ist klar, dass die Bemühungen um die Rettung des Leopoldparks umsonst waren.
Die Aktion Maxvorstadt und ihre Schwabinger Mitstreiter ziehen eine ernüchternde Bilanz.3
Am Samstag, den 23. Mai, legt um 11 Uhr ein Braut-Paar ein mindestens 60 cm breites und 600 m langes Band um den Johannisplatz, bis der Anfang des Bandes mit seinem Ende verbunden ist. Es geht um den Schutz des Johannisplatzes gegen Tiefgaragen, Bäumefällen, Pflasterungen, Haupt-
verkehrswege und vor allem um den Schutz gegen Institutionen: „Die Mithilfe der Teilnehmer am Johannisplatzfest wird unbedingt nötig sein, da das Band lang ist und möglicherweise Spannungen auftreten. Das bedeutet, dass wenn auf jedem Meter einer steht, schon auf alle Fälle 600 Leute da sein sollten. Wenn sich aber auf jedem Meter zwei gegenüberstehen, werden gar 1.200 Leute ge-
braucht, sodass man sich, wenn zum Beispiel 3.600 Leute zu dem Johannisplatzfest kommen, rechtzeitig einen guten Meter sichern muss, um mit dem Band verbunden zu bleiben. Kommen Sie alle, alle tausend Mann & viele viele Frauen.“ Über 1.200 AnwohnerInnen sind schließlich anwe-
send. „Das weisse Band ist die unbearbeitete Theater-Doku der Produktion ‚Das weisse Band, Vor-
wurf auf den Tiger von Äschnapur/Unendlich‘ von Alexeij Sagerer. Die Dokumentation ist in schwarz-weiss mit einer freien Handkamera gedreht. Live-Ton: Hans-Jürgen Buchner und Ulrike Böglmüller. Mit Agathe Taffertshofer und Thomas Tielsch. Kamera: Fips Fischer … Nein, Institu-
tionen wie die Münchner Kammerspiele und ihre Anhängsel, sind nicht der Endsieg über das The-
ater des Aussen. Vor allem dann nicht, wenn sie daran glauben, unter ihrer Regie ‚eine Art von zu-
künftiger Kunst‘ entwickeln zu können, egal ob mit dem Olympiastadion als einer ‚der spektaku-
lärsten Bühnen der Stadt‘ oder ob mit einer ‚24-Stunden-Marathon-Veranstaltung‘ oder einer ‚Opening Ceremony‘. Sie sind nicht die Retter des Unberechenbaren.“4
Die Laimer Unterführung ist für S-Bahnfahrer, die nördlich der Gleise wohnen, ein Verdruss. Fußgänger müssen auf einem schmalen Bürgersteig neben den Autos durch den Tunnel gehen. Kaum einer schafft es, den Atem so lange anzuhalten, bis er die „Laimer Giftröhre“ verlassen
hat. Eine Handvoll Aktivisten der Aktionsgemeinschaft Laimer Tunnel und des Kreisverbandes München-West der GRÜNEN planen im Juni einen spektakulären Überraschungscoup. Sie sperren am 12. Juni blitzschnell den Verkehr, indem sie sich vor die Ausgänge der Unterführung stellen. Transparente, die über die Ausgänge gespannt sind, weisen auf das Anliegen der Demon-
stranten hin. Man fordert den Bau eines zweiten Fußgängertunnels. In kürzester Zeit herrscht ein Verkehrschaos. Eine Autoschlange staut sich bis zum Romanplatz. Die Reaktionen von Fußgän-
gern und Radfahrern ist überwiegend positiv. Ein Autofahrer, dem die Zornesröte ins Gesicht gestiegen ist, steigt aus seinem blockierten Wägen an der Nordseite des Tunnels aus und beginnt, auf einen der Demonstranten einzuprügeln, wird aber von umstehenden Passanten schließlich zurückgehalten und beruhigt. – Am 9. Juli wiederholen die Aktivisten die Aktion. Über den Tunnelenden hängt ein Transparent mit der Aufschrift „Sofort Baubeginn Fußgänger – Rad – Tunnel, S-Bahn Nymphenburg“. An der Kreuzung zur Landsbergerstraße beginnen Autofahrer,
die sitzenden Demonstranten wegzuschleppen und auf sie einzuschlagen. Bernd Schreyer wird mehrere Sekunden gewürgt, bis sich Passanten einmischen. Einige Autofahrer geben sogar Gas und fahren in die Demonstranten, die nur noch blitzschnell zur Seite springen können und dabei Prellungen bekommen. Die Stimmung ist aufgeheizt. Zu hören ist „Vergasen, Arbeitslager, Auf-
hängen, an die Wand stellen, Abschaum, arbeitsscheue Verbrecher …!!!“5 Einige von der S-Bahn kommenden Fußgänger dagegen begrüßen die Aktion. Einer meint, zum ersten Mal in seinem Leben könne er in der Laimer Unterführung atmen. Die Polizei hat erhebliche Mühe, durch das Chaos hindurch zum Schauplatz der Ereignisse vorzudringen. Richy Meyer, der mit seinen Freun-
dinnen und Freunden den nördlichen Eingang zur Unterführung sperrt, gelingt es, in großen Schritten den herbeieilenden Polizisten zu entkommen, ohne dass ihn der zeitübliche Schlag seiner Hosenbeine wesentlich behindert. Er taucht unter im Gewimmel der Gäste des Hirschgartens.6
In den folgenden Monaten werden Tausende von Unterschriften gesammelt, die einen Ausbau
der Anlage fordern. Die Münchner SPD hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Interesse
an diesem neuralgischen Problempunkt. Wenige Jahre später wird der zweite Fußgängertunnel gebaut; MdL Max von Heckel und Stadtrat Wolfgang Czisch (beide SPD) verkaufen jetzt den endlich fertiggestellten Fußgänger- und Fahrradtunnel als ihren alleinigen Erfolg.
Im Westend verspricht ein Politiker, sich um die Belange der Mieter zu kümmern.7
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Am 31. Mai 1978 wurde der Verein Bürgerzentrum Seidlvilla in Schwabing gegründet. Im No-
vember 1979 zog die Polizeiinspektion 5 in das Anwesen ein. Seitdem kämpft die Bürgerinitiative weiter für ein selbstverwaltetes Kulturtentrum im Stadtteil.
Beim Abschluss der „Münchner Mietertage“ zapft Reinhard Zimmermann am 4. Juli ein Bierfaß an.9
Ein Wohnungsspekulant greift mit seinen gierigen Fingern nach dem Haus Türkenstraße 68a in der Maxvorstadt. Tägliche Informationsstände mobilisieren die Öffentlichkeit. Aus diesen Ausein-
andersetzungen entsteht die Aktion Lebensqualität, die 1982 zunächst einen Gesundheitsladen in der Heßstraße 72 gründet. Von 1988 bis 2015 residiert sie im Rückgebäude der Augustenstraße 43.10
„SCHLAG AUF SCHLAG * DER BLAUE STICHT – Seidl-Villa * Abgekartet? – Am 15. September 1981 um 14 Uhr tagte der Münchner Stadtrat, um über das Schicksal der Seidl-Villa zu entscheiden. Der Konferenzraum war bis zum letzten Platz gefüllt. Eine leicht prickelnde Atmosphäre beherr-
schte den Raum, denn die Bürgerinitiative Seidl-Villa war anwesend. – Es ging Schlag auf Schlag: also die Polizei habe endlich Bauantrag gestellt und damit bewiesen, dass sie nicht in der Villa bleiben möchte. Stadtrat Wiedemann habe zwar Unterschriften für einen Verbleib der Polizei in der Villa gesammelt, aber seine Fraktion stehe nicht dahinter. (Ein Versuchsballon?) Man war sich einig, dass die Polizei nicht vor ihrer Übersiedlung in das neue Gebäude noch einmal umziehen könne. – Also Friede, Freude, Eierkuchen – auf ein Jahr darf sie weiter in der Villa bleiben, auch wenn es schon drei Jahre her sind, dass der Beschluss gefasst wurde, aus der Villa ein Bürgerzen-
trum zu machen. Wird nun scheibchenweise die schon verschenkte Salami wieder zurückgenom-
men? Stadträtin Schmalz-Jakobsen wollte gerne Termine wissen, aber der anwesende Vertreter der Polizei musste zugeben, dass bei dem ‚Tempo’ behördlicher Bauunternehmen nicht einmal die versprochenen zwei Jahre Bauzeit sicher seien. — Der Stadtrat war sich einig: die Polizei bleibt trotz gegenteiliger Versprechungen für ein Jahr und dann werde man weitersehen. Der Bürger wurde mal wieder von seinen eigenen gewählten Vertretern an der Nase herumgeführt. — W.H.“11
„Mit der Genehmigung durch die Regierung von Oberbayern wird das Planfeststellungsverfahren für die geplante U-Bahn-Trasse der Linie 5/9 durch das Lehel im Juli abgeschlossen. Das Verfah-
ren dauerte vier Jahre, weil sich die Regierung immer wieder mit massiven Bürgerprotesten befassen musste. Auf die Einwände der Bevölkerung hin muss der Bahnhof Lehel um 6,5 m tiefer gelegt werden als vorgesehen. Dadurch wird nach Expertenmeinung die nicht völlig auszuschlie-
ßende Gefahr von Setzungsschäden erheblich vermindert.“12
19. November: Mütter-Kinder-Demonstration gegen die Chemischen Werke des Herrn Bärlocher im Münchner Norden.13
Am Dienstag, 1. Dezember, erscheint Oberbürgermeister Erich Kiesl in der Bürgersprechstunde
in der Winthirschule in Neuhausen. Die Bürgerinitiative „Rettet Neuhausen“ hat sich in einen Nikolaus, einen Knecht Rupprecht und ein Engelchen verwandelt und versucht, dem OB sein Sündenregister vorzutragen. Der aber lässt die Polizei rufen und die frommen Gestalten von dieser vor die Türe setzen.14
(zuletzt geändert am 15.2.2021)
1 Vgl. Münchner Zeitung 7 vom Februar 1981, 1 f.; Josef Eppinger: „Rangierbahnhof München-Nord“ in Münchner Zeitung 8 vom 15 März 1981, 5; Münchner Zeitung 10 vom 15. Mai 1981, 4 und Münchner Zeitung 11 vom 15. Juni 1981, 4.
2 Vgl. Süddeutsche Zeitung 44/1981.
3 Siehe „Abschied vom Leopoldpark“.
4 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=uEnBVNKIx0g.
5 Münchner Zeitung 12 vom 15. Juli 1981, 2.
6 Siehe „Laimer Gifttunnel. Genug gesprochen – jetzt handeln wir!“ und die Fotos von der „blockade der giftröhre“ am 9. Juli.
7 Siehe „Widerstand lohnt sich!“ von Hilde Keller und Peter Eberlen.
8 Archiv der Seidvilla
9 Siehe „Bierprozess“ und „Sehr geehrter Herr Pfarrer!“ von Stadtdirektor Michalek.
10 Siehe „Oase der Ruhe“ von Bertram Verhaag, „Hausbesitzer: ‘Diese linken Schweine’“ und „Vielleicht gehörte es auch zu den Spätfolgen von ’68 …“ von Christian Ude.
11 Münchner Zeitung 15, Oktober/November 1981, 5.
12 Stadtchronik, Stadtarchiv München.
13 Vgl. Süddeutsche Zeitung 267/1981.
14 Vgl. Münchner Zeitung 17 vom 15. Dezember 1981, 1. Siehe auch „Wer will den Luxus, Herr Spekulant?“ und „I geh durch Neihausn …“ von Bernd Schreyer.