Flusslandschaft 1983

Bürgerrechte

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14. März: „Die Humanistische Union (HU) hat bei der Regierung von Oberbayern jetzt Aufsichts-
beschwerde gegen die Stadt wegen ‚gesetzwidriger Verordnungen’ zur Durchführung der Volks-
zählung eingereicht. Die HU greift drei Punkte an: Die ‚Prämie’ für Zähler, die nicht gemeldete Deutsche und Ausländer ausfindig machen, die Anweisung, die Zähler müssten ‚die Eintragungen auf Richtigkeit und Vollständigkeit’ prüfen und den ‚generellen Ausschluss von Ausländern von der Zählertätigkeit’.“2 Im April soll die Volkszählung stattfinden. Auf Flugblättern wird massenhaft zum Boykott aufgerufen. In einem Flugblatt der Autonomen heißt es: „… Der breite Volkszählungs-
boykott jetzt kann ein Ausdruck davon sein, dass sich immer mehr Menschen der totalen Kontrolle entziehen, von sich aus ne Grenze zwischen sich und dem Staat machen. Darüberhinaus haben viele versucht, raus- und klarzukriegen, welche enormen Folgen die Volkszählung für jeden einzel-
nen von uns hat. Im Verlauf der Auseinandersetzung, wo wir uns anfangs mit den unmittelbaren Folgen dieses Volksverhörs beschäftigten, ist vieles klar geworden, dass eine solche Erfassung und Durchdringung der Bevölkerung, ihrer Umwelt und ihrer sozialen Strukturen nur die Funktion hat, auch alles noch nicht vom Staat Kontrollierte in die ökonomischen und militärischen Planungen der NATO besser als bisher miteinbeziehen zu können. Deshalb heißt für uns Widerstand gegen die Volkszählung Widerstand gegen dieses menschenverachtende System und die von diesem System mit der Volkszählung verfolgten Ziele, konkret jetzt gegen die Stationierung der Mittelstreckenra-
keten und gegen den Versuch des Staates, den Widerstand zu zerschlagen.“3 — Am 28. März findet eine Protestveranstaltung im Schwabinger Bräu, Leopoldstraße 82, statt, am 22. April eine Kund-gebung gegen die Volkszählung auf dem Marienplatz.3 — Das Bundesverfassungsgericht leitet am 15. Dezember im „Volkszählungsurteil“ aus Art. 2 GG das „informationelle Selbstbestimmungs-recht“ jeder Bürgerin und jedes Bürgers her.

Der 14-jährige Jürgen Bergbauer treibt sich des Nachts vom 19. auf den 20. März beim Gautinger Jugendzentrum herum. Drei Polizeibeamte hören gegen 0.45 Uhr das Klirren einer Scheibe. Sie trennen sich auf der Suche nach dem vermuteten Einbrecher. Um 0.49 Uhr fallen drei Schüsse; Jürgen ist tot. Zunächst demonstrieren Jugendliche am 23. März gegen die Todesschüsse in Gau-
ting.4 Am 25. März titelt der Münchner Merkur: „Droht München ein Frühling voller Gewalt?“5 Am 26. März demonstrieren vor allem Jugendliche am Sendlinger Tor unter dem Motto „Wer ist der nächste? Stoppt die Todesschüsse der Polizei“. Unter dem Deckmantel der so genannten „Puta-
tivnotwehr“ werde der Polizei ein Freibrief für die Vollstreckung der Todesstrafe an Ort und Stelle erteilt und nachträglich von der Justiz legitimiert. Schließlich demonstrieren 1.300 Jugendliche am 6. Juli gegen das milde Urteil gegen den Gautinger „Todesschützen“.6

1977 ist Gerhard Seyfried, der mit seinen Zeichnungen das Blatt geprägt hat, nach Berlin gezogen. München fand er fad. Berlin gefällt ihm besser: „Die Polizei in Berlin spinnt doch komplett, sagt er. Die ruft die Aggressionen erst hervor mit ihrem militanten Getue. Die zieht voll die Abschreckung auf mit Nato-Draht und Mannschaftswagen. Sie will die Konfrontation. Sie ist schuld an dem Haß in dieser Stadt, sagt Seyfried. Er geht nicht mehr auf die Straße, wenn etwas los ist, das ist ihm zu gefährlich. Echt. In München ist das ganz anders, tote Hose. Da ist die Polizei vollkommen gelas-
sen, denn ihr gehört die Stadt, sagt Seyfried.“7

Gegen die Verschärfung des Demonstrationsrechts organisieren Autonome für den 6. August am Stachus eine Demo.8

Der 26. September ist der dritte Jahrestag des Bombenanschlags auf dem Oktoberfest. Michi Brü-
cher vom Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD organisiert am Ort des Attentats eine Mahnwache und legt einen Kranz nieder, auf dessen Schleife zu lesen ist „Die Toten mahnen: Fa-
schisten hinter Gitter! Für Hoffmann lebenslänglich!“9 Unter die Tausende von Wiesnbesuchern mischen sich Polizeibeamte, die ermitteln. „Im Januar 1984 flattert mir dann ein Strafbefehl ins Haus: Als ‚Leiter einer nicht angemeldeten Versammlung’ habe ich das Gesetz gebrochen: DM 1.200 Strafe, ersatzweise 30 Tage Haft. Ich lege Widerspruch ein, komme vor Gericht, durch zwei Instanzen. Das Berufungsgericht verurteilt mich schließlich zu DM 400, ersatzweise 10 Tage Haft.“10

Am 15. Dezember entscheidet das Bundesverfassungsgericht und verbrieft das „Recht auf informa-
tionelle Selbstbestimmung“.11

(zuletzt geändert am 18.12.2023)


1 Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

2 Stadtchronik, Stadtarchiv München.

3 Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Flugblattsammlung

3 Vgl. Udo Kauß: „Die Proteste gegen die Volkszählungen 1983 und 1987“ in: vorgänge 155 Heft 3 vom September 2001, 121 ff. Vgl. Sammlung „Volkszählungsboykott“ im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

4 Vgl. Süddeutsche Zeitung 69/1983.

5 Vgl. Münchner Merkur 71/1983.

6 Vgl. Süddeutsche Zeitung 153/1983. Siehe „Die Kriminalität“ von Katharina Rutschky.

7 Stern 24 vom 9. Juni 1983, 82.

8 Siehe „Liebe Bürger“.

9 Gemeint ist hier der Anführer der rechtsextremistischen „Wehrsportgruppe Hoffmann“, der Verbindungen zum Attentäter Gundolf Köhler nachgesagt werden.

10 Dokumentation. Recht ist, was Strauß nützt. Rechtsbrüche der CSU im Jahre 1986, München 1986, unpag.

11 Siehe https://www.heise.de/news/Vor-30-Jahren-Das-Volkszaehlungsurteil-macht-Geschichte-2066049.html.