Flusslandschaft 1986
Gewerkschaften/Arbeitswelt
- Allgemeines
- DGB
- Bundespost
- Druckhaus Karl Thiemig
- Jugendarbeitslosigkeit
- Neue Heimat
- Repro-Union
- Stationierungsstreitkräfte
- Transportgewerbe
- Volkshochschule
ALLGEMEINES
„Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zi-
vilisation herrscht. Diese Sucht, die Einzel- und Massenelend zur Folge hat, quält die traurige Menschheit seit zwei Jahrhunderten. Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht.“ Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit, (Paris 1883), Berlin 1986, 10.
Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter protestieren am 22. Januar mit 25.000 Unterschriften gegen eine geplante Änderung des Streikparagraphen 116.1
„Der neue Paragraph 116 AFG – Seit 1986 bekommen Arbeitnehmer bei Kurzarbeit aufgrund von Fernwirkungen eines Arbeitskampfes in einem anderen Tarifgebiet kein Kurzarbeitergeld mehr. Voraussetzung: Eine in ihrem Tarifgebiet erhobene Forderung ist der Hauptforderung des Arbeits-
kampfes nach und Umfang ‚gleich, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen’. Zahlt die IG Metall auch den kalt Ausgesperrten Unterstützung, wären die Arbeitskampfkosten für sie unkalkulierbar. Denn die Unternehmer haben es in der Hand, durch Aussperrung im Kampfgebiet zu bestimmen, wie groß die Fernwirkungen des Arbeitskampfes werden sollen. Und damit auch, wieviel die IG Metall der Arbeitskampf kosten soll und wann sie ihn abbrechen muss. Zahlt die IG Metall den kalt Ausgesperrten keine Unterstützung, können sich Zorn und Verzweiflung der Betroffenen leicht gegen die Gewerkschaft richten: Sie könnte gezwungen sein, den Streik abzubrechen. Der neue 116 AFG ist also ein wirksames, zusätzliches Arbeitskampfmittel der Unternehmer, das die IG Metall in die Zwickmühle bringen könnte.“2
Am 6. März kommt es zu bundesweiten Protesten gegen den § 116 Arbeitsförderungsgesetz. Bun-
deskanzler Kohl nennt die gewerkschaftlichen Aktionen „volksverhetzend“. Etwa 15.000 Gewerk-
schafter protestieren auf dem Marienplatz, so unter anderem die Belegschaft von BMW in Mil-
bertshofen.3 Demonstranten mit Politikermasken persiflieren deren Aussagen. Zum Protest haben der DGB-Kreisvorsitzende Alois Mittermüller und der 1. IG Metall-Bevollmächtigte Alois Laus aufgerufen. Die Unternehmer der Firma Rhode & Schwarz haben gegen die beiden eine einstwei-
lige Verfügung, den an die Arbeitnehmer gerichteten Aufruf zu wiederrufen, zukommen lassen, allerdings zu spät. Laus soll 500.000 Mark berappen, aber er untersagt dem Gerichtsvollzieher den Zutritt zu seinem Grundstück und macht Wiederruf gegen die Vollstreckung geltend. Der Prozess geht am 13. Juni für die Unternehmer verloren.
„Warnung an die Heinis in den obersten Etagen — / Mit dem verhallenden Gongschlag / in der Vorhalle, / eilen die Manager – Macher – / in ihre Käfige der oberen Etagen / in grauen und blau-en Anzügen, / Wirkung und Macht hervorzurufen. — / In den unteren Etagen eilen / die grauen Mäuse in ihre Reihen, / zum unterwürfigen Choral, / ihre stupiden besten Leistungen hervorzu-bringen. — / Rasend zerren die Nerven, / dies alles auch nur dumpf zu ertragen. / Brodeln und wallen neue Dämpfe und Düfte, / die an die Nase stoßen / und träumen lassen.“ Wolf-Dieter Krä-mer am 31.6.1986
Der Strukturwandel in der Arbeitswelt schafft einen neuen Typus eines*r Arbeitnehmers*in, der/ die sich in München und Oberbayern sehr wohl fühlt.4
„Koa Lehrstell // Wennsd vui lernst, dann ghört dir d’ Welt, / hot mei Vadda mir verzählt, / i druck d’ Schuibank und taat gern / Spangler oder Schlosser wern. // Mit der Zeit kimmt dann der Tag, / wo i um a Lehrstell frag, / hab an Haufa Briaferl gschriebm, / s’ is koa Lehrstell für mi bliebn. // s’ Geld für s’ Gwand und s’ Geld zum Lebm / muaß mir iatzt mei Vadda gebm. / Vadda, wer hot’s dir verzählt, / wennsd vui lernst, dann ghört dir d’ Welt?“ Johanna Beringer5
Siehe auch „Stadtviertel“.
DGB
Das Motto zum Ersten Mai lautet „Mitmachen. Stark sein. Die Zukunft gestalten – DGB“.6
„28. August 1986: Mit ‚Feinden der Demokratie’, den Grünen und dem DGB, setzt sich Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß nicht an einen Tisch. Mit dieser ‚Begründung’ erteilte die CSU dem bayerischen DGB ihre Absage, an einer Podiumsdiskussion der ‚Prüfsteine’ zur Land-
tagswahl teilzunehmen.“7
BUNDESPOST
Vom 12. bis 16. Mai protestieren Gewerkschafter vor dem Fernmeldeamt 2.9
DRUCKHAUS KARL THIEMIG
Am 19. Februar findet eine Kundgebung der Mitarbeiter des Druckhauses Karl Thiemig statt.10 — Der Betriebsratsvorsitzende erhält am 28. Februar von Polizisten eine Strafanzeige.11
JUGENDARBEITSLOSIGKEIT
Die „Münchner Initiative zur Vereinigung der revolutionären Jugend“ veranstaltet 1986 einige Auf-
züge, um vor allem gegen Jugendarbeitslosigkeit zu protestieren. Am 18. Oktober kommt es zu einer Demonstration gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Viele Teilnehmer im blauen Hemd der FDJ werden festgenommen.12 „Am 21. Oktober führte die ‚Münchner Initiative zur Vereinigung der re-
volutionären Jugend’ mit 15 Teilnehmern im Westend einen kurzfristig angemeldeten Aufzug zum Thema Jugendarbeitslosigkeit durch. Da Anhaltspunkte für die Begehung von Straftaten vorlagen, wurde die Versammlung von Polizeikräften aufgelöst. 12 der Teilnehmer kamen der Auflösungs-
verfügung nicht nach. Bei der daraufhin durchgeführten Personalienfeststellung leisteten 7 Perso-
nen Widerstand und wurden daher vorläufig festgenommen. Bei der Festnahmeaktion wurde ein Beamter leicht verletzt.“13
NEUE HEIMAT
Seit Jahren wächst die innergewerkschaftliche Kritik an den Wirtschaftsunternehmen des DGB.14 Nachdem im Herbst bekannt wird, dass der DGB seinen maroden Wohnungsbaukonzern Neue Heimat für den symbolischen Preis von einer D-Mark an den Berliner Bäckermeister Horst Schiesser verscherbeln will, hagelt es Proteste.15
REPRO-UNION
13. Februar: Protestaktion gegen Entlassungspläne bei der Repro-Union.16
STATIONIERUNGSSTREITKRÄFTE
Vom 10. bis 14. November finden Warnstreiks an zahlreichen Standorten der US-Armee in Bayern und damit auch in München statt. Über 1.500 deutsche Beschäftigte sind beteiligt. Die ötv fordert gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Beseitigung der Lohngebiete, Ende mit der Diskriminierung von Frauen und Männern in der Küche sowie 6,5 Prozent für Arbeiter, Angestellte und Auszubildende. Die Arbeitgeber versuchen die Beschäftigten mit Notdienstverpflichtungen daran zu hindern, sich an den Warnstreiks zu beteiligen.
TRANSPORTGEWERBE
Lastwagenfahrer protestieren am 29. Oktober vor dem Wirtschaftsministerium.17
VOLKSHOCHSCHULE
„Es brodelt in der Bildungsfabrik – An der Münchner Volkshochschule tut sich was. Die 2.200 Do-
zent(inn)en arbeiten nicht mehr nur brav, sondern mucken auf. Eigentlich ist es ein Skandal. Über 400 von uns sind von der VHS finanziell völlig abhängig. Sie sitzen auf der Straße, wenn sie keine Kurse mehr bekommen. Viele von uns arbeiten jahrelang für die VHS, können aber ohne jede Be-
gründung von heute auf morgen gefeuert werden. Wir alle zahlen die Beiträge zur Kranken- und Sozialversicherung aus eigener Tasche, bekommen keine Bezahlung bei Unterrichtsausfall oder Krankheit, kein Weihnachts- oder Urlaubsgeld. Die Bezahlung bleibt weit unter dem Tarif von gleichqualifizierten Lehrern. Das Budget für die Honorarkosten ist vergleichsweise niedrig: Für die 340 festen Mitarbeiter sind es 7 Millionen Mark, für 2.200 Dozent(inn)en genügen fünfeinhalb Millionen. Wie an anderen Volkshochschulen schon längst üblich, fordern wir Mitbestimmungs-
möglichkeiten bei der Programmgestaltung und der Stundenverteilung, bei der Gestaltung unserer Arbeitsbedingungen, bei der Honorierung und bei der Regelung von Konflikten. Wir fordern einen Tarifvertrag, wie ihn die RFFU für die freien Mitarbeiter/innen mit dem Bayerischen Rundfunk geschlossen hat. Günther Gerstenberg (tätig für die MVHS)“18
(zuletzt geändert am 8.5.2023)
1 Vgl. Süddeutsche Zeitung 18/1986.
2 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 7 vom 6. April 1990, 12.
3 Vgl. Süddeutsche Zeitung 55/1986; siehe „Gewerkschaften“ 1984; Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen 4439 I und II.
4 Siehe „Münchener Image“ von Detlef Ipsen.
5 ötv KONKRET. Informationen der gewerkschaft ötv bayern 12/86, 2.
6 3 Fotos: Erster Mai 1986, Standort: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Mappe 28.
7 kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 1/1987, 108.
8 Aufkleber-Sammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
9 Siehe „Resignation auf voller Linie?“ von Henning Sieverts.
10 Vgl. Münchner Merkur 42/1986. Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen.
11 Vgl. Süddeutsche Zeitung 50/1986.
12 Vgl. Süddeutsche Zeitung 241/1986.
13 Sicherheitsreport 1986. Polizeipräsidium München, München 1987, 6.
14 Vgl. Kurt Hirche, Der Koloss wankt. Die Gewerkschaftsunternehmen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Düsseldorf/Wien 1984.
15 Foto: „Ihr verkauft keine Wohnungen, sondern Menschen”, Neue-Heimat-Demonstration, Standort: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.
16 Vgl. Süddeutsche Zeitung 37/1986.
17 Vgl. Süddeutsche Zeitung 250/1986.
18 Wir. DGB-Kreis München 3 vom Juli 1986, 4.