Flusslandschaft 2002
Rechtsextremismus
„12. Januar: Erneut veranstaltet die NPD einen Infostand in der Münchner Innenstadt (Weinstra-
ße). Anwesend sind unter anderem Renate Werlberger (NPD-Kreisverband München), Norman Bordin und Martin Wiese. Allerdings ohne Erfolg: Der Stand ist ständig umrundet von Protestie-
renden. Infomaterial kann nicht verteilt werden. – 19. Januar: Ein weiterer NPD-Infostand in der Münchner Innenstadt, diesmal mitten in der Fußgängerzone (Kaufingerstraße). Wieder umringen zahlreiche AntifaschistInnen den Stand und hindern die NPD daran, ihre Propaganda unters Volk zu bringen. Anwesend ist diesmal auch der NPD-Parteivorsitzende Udo Voigt. Auch der im Prozess mit Christoph Schulte, Anna Maria von Papen, Dominic Brodmerkel und André Kühr angeklagte Norman Bordin lässt es sich wieder nicht nehmen, teilzunehmen. Aus demselben Spektrum lassen sich Martin Wiese und Reiner Mehr blicken.“1
Ob die Böhsen Onkelz immer noch der rechtsextremen Szene angehören oder nicht, bleibt offen. Jedenfalls hat Fernsehsender MTV 2001 eine Sendung über die Band ausgestrahlt und dabei den rechtsextremen Zusammenhang hergestellt, obwohl die Band behauptet, sich längst distanziert zu haben. Jetzt erscheint eine Single, die den Sender angreift. Zugleich kippen die Musiker am 18. Februar einhundertfünfzig Fernsehgeräte auf den Marienplatz.
Im Januar des vergangenen Jahres haben fünf Neonazis im Alter von 18 bis 25 Jahren den Grie-
chen Artemios T. brutal zusammengeschlagen. Am 1. März diesen Jahres verhängt die Münchner Jugendkammer Srafen in Höhe von 15 Monaten bis sechs Jahren.
Im Frühjahr ist die Ausstellung „Anschläge gegen rechte Gewalt“ im Kulturreferat der LHS Mün-
chen, Burgstraße 4, zu sehen.
Samstag, 20 April, 14 Uhr vor dem Sendlinger Tor: Demonstration »Nie wieder ein braunes Mün-
chen!«
28. April: Demonstration gegen Nazikader Busse …
„11. Mai: Die NPD veranstaltet erneut einen Info-Stand in der Theatinerstraße in der Innenstadt. Wie immer veranstaltet federführend Renate Werlberger den Stand, der als Wahlkampfveranstal-
tung angemeldet ist, jedoch in erster Linie gegen das NPD-Verbot antritt. Mittlerweile fest in den NPD-UnterstützerInnenkreis integriert ist auch Enrico Schenker, der früher regelmäßig die Stammtische des neonazistischen Freizeitverein Isar 96 e.V. besuchte und auch beim Übergriff auf einen Griechen im Januar 2001 anwesend war. Aufgrund seiner Beteiligung an jenem Übergriff war Schenker zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Vor Gericht hatte er betont, sich von der Szene distanziert zu haben. Etwa 50 AntifaschistInnen protestieren gegen die Neona-
zis.“2
Die Burschenschaft Danubia, deren Sitz an der Möhlstraße liegt, machte im Januar 2001 von sich reden, als sie einem Skinhead Unterschlupf bot, der zuvor einen Griechen fast zu Tode geprügelt hatte. Seitdem stuft der bayrische Verfassungsschutz die Burschenschaft als rechtsextrem ein. Im Frühjahr 2002 kommt der Bonner Politikwissenschaftler Hans-Helmuth Knütter in einem 25-sei-
tigen Gutachten zum Ergebnis, die Danubia sei eine „rechte patriotische Verbindung“, ihr Tun sei aber durch die Grundrechte gedeckt.
15. Mai: „Tag der Vertriebenen“. Eine Gegenveranstaltung findet in der Ludwig-Maximilians-Universität am Geschwister-Scholl-Platz 1 zum Thema „Volkstumskampf gestern und heute“ statt.
„Der Verein Rom e.V. und Zäzilia Reinhardt leiten (im Sommer) juristische Schritte gegen Leni Riefenstahl ein: die NS-Filmregisseurin hatte in einem Interview im Magazin der ‘Frankfurter Rundschau’ vom 27. April behauptet, ‘keinem einzigen’ ihrer ‘Zigeuner’-Komparsen, die sie für ihren Film ‘Tiefland’ aus einem Konzentrationslager gestellt bekommen hatte, sei ‘etwas passiert’; tatsächlich kamen die unfreiwilligen Statisten, Frau Reinhardt war eine von ihnen, wieder zurück in das Lager Maxglan bei Salzburg und wurden später deportiert, einige in den Tod: nachdem Rom e.V. bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft Strafantrag wegen Holocaustleugnung stellt, unter-
schreibt die in gewissen Kreisen immer noch hoch geachtete rüstige Greisin (Jahrgang 1902) eine Unterlassungserklärung, wonach sie sich verpflichtet die Behauptung ‘Wir haben alle Zigeuner,
die in „Tiefland“ mitgewirkt haben, nach Kriegsende wiedergesehen. Keinem einzigen ist etwas passiert’ nicht mehr zu wiederholen oder zu verbreiten; das Verfahren wird daraufhin eingestellt; wie kein zweiter Regisseur des ‘Dritten Reiches’ hatte es Leni Riefenstahl verstanden Hitler, die Wehrmacht und die NS-Olympiade Berlin mit filmischen Mitteln zu mystifizieren; zuerst von amerikanischen Behörden, dann 1948 von der Spruchkammer Villingen ‘freigesprochen’, war sie bald wieder erfolgreich als Fotografin, u.a. anlässlich der Olympischen Spiele von München 1972 tätig: erst eine Fernsehdokumentation aus dem Jahre 1982 belegte eindeutig ihre Skrupellosigkeit; 2003 stirbt sie in Pöcking am Starnberger See.“3
Intellektuelle Edelfaschisten beziehen sich auf Stefan George, D’Annunzio, Carl Schmitt, lobprei-
sen faschistische Ästhetik und zelebrieren sich als todesverliebtes, elitäres Gesamtkunstwerk. Zwei von ihnen, die in München residieren. nennen sich „von Thronstahl“, veröffentlichen Texte und CDs, veranstalten Konzerte und feiern am 23. August Leni Riefenstahls Geburtstag im „Führer-
bau“, der heutigen Musikhochschule in der Arcisstraße 12.4 – „Unbegreiflich peinlich – Schlimm genug, dass eine Stadt wie München es Studenten aus aller Welt zumutet, im ehemaligen „Führer-
bau Hitlers“ zu studieren. Dass zu Ehren von Frau Riefenstahls Geburtstag rechte Gruppen dort feiern können, ist mir unbegreiflich und als Münchner Bürgerin vor allen Studenten peinlich, dass so etwas möglich ist. Dieser Bau hat weder als Hochschule noch als Veranstaltungsort für Feste eine Berechtigung. In dieses Gebäude gehört, wenn es schon nicht abgerissen wird, ein Museum, in dem die ganze Katastrophe des Zweiten Weltkriegs dokumentiert wird, damit wir nie vergessen. Aber im Verdrängen und Wegschieben ist die Stadt München, was ihre Nazivergangenheit anbe-
trifft, wirklich erste Sahne. – Cordula Zickgraf“5
Am 12. Oktober verhindern Tausende Münchnerinnen und Münchner eine rechtsextreme Demo. Siehe „Gedenken“.
2. November: „Naziverhüllung“ auf dem Stachus. Günter Wimmer6 bekommt eine Anzeige wegen „Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz“.7
Wie am 12. Oktober sind auch am 30. November wieder Tausende Antifaschisten in der Münchner Innenstadt, um einen erneuten Versuch einer Demo unter dem Motto „Die Deutsche Wehrmacht kämpfte tapfer und anständig. Stoppt die Lügenausstellung!“ gegen die (gerade sehr erfolgreich beendete) Wehrmachtsausstellung zu verhindern. Ein breites Bündnis von Kommunisten bis zur Vereinigung der geistlichen Schwestern in der Erzdiözese München-Freising hat dazu aufgerufen, den Nazis „die Rote Karte zu zeigen“. Als „linke Selbstherrlichkeit“ kritisiert dagegen der CSU-Bun-
destagsabgeordnete Hans-Peter Uhl die Blockade-Aufrufe gegen die rechten Marschierer. Sicher wolle „kein anständiger Demokrat mit den 200, 300 rechtsextremen Spinnern zu tun haben“, sagt Uhl. Aber die Versammlungsfreiheit sei „nunmal unteilbar“ und gelte für die Rechtsextremen ebenso wie für die Protagonisten der Gegendemonstration, „obwohl die einen vergleichbar rechts-
extrem wie die anderen linksextrem sind und waren“. Ankündigen zur Blockade seien „keine demokratische Heldentat, sondern der unverblümte Aufruf zur Straftat“, sagt der ehemalige Kreisverwaltungsreferent … Nach der Erfahrung vom letzten Monat haben sich ohnehin nur noch knapp Hundert Rechtsextremisten nach München getraut, die dann, geschützt von über 1.500 martialisch ausgestatteten Polizisten, in einer Art Spießrutenlauf gegen die demonstrierenden Münchner von der Theresienwiese zum Goetheplatz geleitet werden. Ihren Plan, die lange Route vom Hauptbahnhof aus zu marschieren, haben die Nazis bereits tags zuvor aufgeben müssen. Viele Münchnerinnen und Münchner beim Weihnachtseinkauf schütteln die Köpfe über die absurde Situation, dass eine regelrechte Polizeiarmee mit ihren Absperrungen einem verlorenen Häuflein von wenigen Dutzend Rechtsextremisten eine Bresche durch Tausende Münchnerinnen und Münchner schlägt, damit sie eine durch die Proteste unhörbare Kundgebung für Faschismus durchzuführen können, bevor sie wieder wegtransportiert werden.8 Bei der Gegendemonstration auf dem Odeonsplatz um 10.30 Uhr hat Siegfried Benker öffentlich dazu aufgefordert, sich den Neonazis in den Weg zu stellen. Am 16. Oktober 2003 wird er dafür zu 5 Tagessätzen à 30 Euro „unter Vorbehalt“ verurteilt. Er muss also nur bezahlen, wenn er innerhalb eines Jahres straffällig wird. Benker: „Das Gericht hat mit diesem ausgesprochen milden Urteil den Verfolgungseifer von Polizei und Staatsanwaltschaft mit einem dicken Fragezeichen versehen. In Anbetracht der Höhe der vom Staatsanwalt geforderten Strafe empfinde ich das Urteil als ‚Freispruch 2. Klasse’.“9
2 A.a.O.
3 Robert Schlickewitz, Sinti, Roma und Bayern. Kleine Chronik Bayerns und seiner „Zigeuner“, 2008, www.sintiromabayern.de/chronik.pdf, 176.
4 Siehe „‚Geliebt, verfolgt & unvergessen’“.
5 Süddeutsche Zeitung vom 3. September 2002.
6 Günter Wimmer, geb. 1943 in München, Dipl. Sozialpädagoge (FH) i.R., war berufstätig überwiegend in der Arbeit mit und für Jugendliche, Familien und „strafrechtlich Aufgefallene“. – Aus solchen Erfahrungen mit den Voraussetzungen, der Bedeutung und Gefährdung von ‚Gesetzestreue’ wurde ihm wichtig, zu versuchen, a u c h ‚nebenher’, also ehrenamtlich das ihm Mögliche beizutragen: Dass auch Staat, Kommunen, Freie Träger, ‚die’ Wirtschaft etc., wir alle also Recht und Gesetz nicht brechen und die je eigenen Normen nicht verraten, dass Konflikte fair ausgetragen werden und nicht eskalieren, dass Gerechtigkeit und Menschenwürde nicht nur Schlagwörter bleiben … – Also engagiert u.a. in Wackersdorf (in den 80-ern geplante und in Vorbereitung befindliche Atomreaktoren-Abfall-WiederAufbereitungsAnlage), Mutlangen (Pershing II – Atomraketen-Nach-Nach-Nachrüstung), EUCOM (Europäische Kommandozentrale der US-Streitkräfte in Stuttgart, maß-
geblich u.a. für die Strategie der Angriffskriege auf den Irak), Gorleben (Castor-Transporte gleichsam als Nadelöhr oder für die Anti-AKW-Bewegung günstiges Glied, an/mit dem in die schlimme Kette ansonsten oft nicht so ‚greifbarer’ nuklearer Gefährdungen wenigstens relativ leicht eingegriffen und dabei die Unverantwortlichkeit dieser angeblich ‚sauberen’ Tech-
nologie insgesamt aufgezeigt werden kann: Schon beim ‚strahlenden’ – und ‚Dank’ verschiedener Abbaumethoden mit Chemikalien Land und Grundwasser zusätzlich vergiftenden – , also ganz und gar unsauberen Abbau von Uran vielfältige Schädigung insbesondere indigener Völker; weitere „Kettenglieder“ etwa die geleugneten Strahlungsemissionen schon beim ‚normalen’ laufenden Reaktor-Betrieb, die vielfältigen schon aufgetretenen hochriskanten ‚Störungen’ und weitere Unfallge-
fahren plus die Terror-Anschläge-Anfälligkeit; die technische Verquickung von ‚ziviler’ und militärischer Kernkraft-Nut-
zung und damit vielfältige Missbrauchsgefahren … bis hin zur nach wie vor ungelösten wirklich nachhaltig sicheren, für Nachgeborene über Hunderte von Jahrtausenden zumutbaren ‚Entsorgung’). – Da Engagement wirkungsvoller ist in guter Vernetzung mit anderen, im übrigen auch eher „durchzustehen“: Beteiligt u.a. seit Jahrzehnten beim Münchner Friedens-
bündnis sowie seit dessen Gründung auch beim Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus. Weiter seit 2002 regelmä-
ßig auch in der Westbank ehrenamtlich tätig, u.a. mit beim International Solidarity Movement (ISM): Menschen in Be-
drängnis beistehen, damit auch manches Unrecht vermeiden helfen, weil es vor Zeugen gar zu peinlich ist, entsprechend auch in den Heimatländern berichten. – Günter Wimmer: „ISM und meine Bemühungen sind nicht gegen Israel oder Juden gerichtet, sondern wir wollen unterstützen beim Ent-feinden, arbeiten, wo immer es geht, auch mit jüdischen Friedensakti-
visten zusammen. Auch wenn (oder weil) diese von der Mehrheitsgesellschaft als ‚Verräter’, ‚Nestbeschmutzer’ oder ‚jüdi-
sche Selbsthasser’ abgetan werden (um sich mit ihren Argumenten nicht wirklich auseinandersetzen zu müssen). Nach meinen jahrzehntelangen Berufserfahrungen wage ich zu sagen: Ich weiß, was Selbsthass ist; aber von den vielen jüdisch-israelischen Freunden, mit denen ich zusammenarbeiten durfte und darf, ist keiner ein Selbsthasser! Sie ziehen aus der Liebe zu ihrer Heimat ‚nur’ andere Konsequenzen: Die wirkliche Gefährdung kommt nicht von den Palästinensern, sondern aus der massiv ungerechten, ein ganzes Volk verletzenden, entwürdigenden, ja vielfach rassistischen Politik, insbesondere der Besatzungs- und Siedlungspolitik, dem Landraub etc.“ Siehe dazu auch „23. mai“ 2009.
7 Siehe „Nazi-Verhüllung: Statt Verurteilung zu 2.000 Euro gestern in 2. Instanz Verfahrenseinstellung“ von Wolfgang Fischer.
8 Siehe „Der Staatsanwalt und der ‚Mob’“ von Ernst Antoni.
9 www.siegfried-benker.de. Siehe „Weitere Prozesse gegen die Antifaschisten“. Siehe auch „Rechtsextremismus“ 2003.