Flusslandschaft 2003

Gewerkschaften/Arbeitswelt

- Allgemeines
- DGB

- Einzelhandel
- Epcos
- Flughafen
- Siemens
- Städtische Mitarbeiter


ALLGEMEINES

»Wir in Deutschland haben alles, was zum Erfolg notwendig ist. Wir müssen ihn aber tatsächlich wollen. Niemand darf blockieren oder behindern. Jeder sollte mit seinen Möglichkeiten vorange-
hen, damit das Ganze vorankommt.« Bundeskanzler Schröder in seiner Neujahrsansprache

Anfang Februar machen der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), Mittelstandsver-
einigungen und Bauernverband mobil. Sie fordern von der Bundesregierung Deregulierung und niedrigere Steuern. Insgesamt demonstrieren in München, Berlin und Leipzig unter dem Motto „Uns reicht’s – Handwerk gegen Stillstand“ 20.000 Menschen.1

Im Mai demonstrieren bundesweit 90.000 Menschen gegen Schröders Agenda 2010.

Großartig: Im Kapitalismus wird das Elend verwaltet. Mittwoch, 8. Oktober, 17 Uhr: Jubeldemo: „Sozialabbau ist geil – München jubelt“ Demo vom Sendlinger Tor über den Altstadtring. Ab-schlusskundgebung am Marienplatz. — Donnerstag, 9. Oktober, 9.30 Uhr vor dem Arbeitsamt, Kapuzinerstraße 26: Aktion „Kreuz der Arbeitslosigkeit“2 — Am 1. November demonstrieren über 100.000, unter ihnen viele Erwerbslose, in Berlin gegen den „Sozialkahlschlag“.

Wenn gegen Erwerbslosigkeit demonstriert wird, scheiden sich die Geister. Je größer die industri-
elle Reservearmee, desto eher kann das Lohnniveau gedrückt werden, desto schlechter werden Ar-
beitsbedingungen. Vollbeschäftigung dagegen ist eine gute Voraussetzung für gute Tarifabschlüsse. Nur: Wo bleibt die Kritik an der Lohnarbeit, an der Ware Arbeitskraft, die sich auf dem Markt feil-
zubieten gezwungen ist. Anarchistische Außenseiter rufen bei Demonstrationen: „Wir wollen keine Arbeitsplätzchen, wir wollen die ganze Bäckerei!“ Auch in der linken Presse wird das Dilemma er-
örtert: „… Allerdings sollte sich die Linke noch deutlicher gegen die Arbeit an sich wenden. Die sozialen Kürzungen bestehen doch in erster Linie in einer Ausweitung der Repression gegen Ar-
beitslose und Sozialhilfeempfänger, und diese Repression funktioniert nur, weil das Hirngespinst der Vollbeschäftigung nach wie vor in den Köpfen selbst vieler Linker umherschwirrt; anstatt froh zu sein, dass immer mehr die Maschinen die Drecksarbeit übernehmen. Vollbeschäftigung für die Maschinen! Und für uns den ultimativen Freizeitpark! Gunnar P., München“3

Im Dezember demonstrieren bundesweit 230.000 GewerkschafterInnen gegen die von Schröder angekündigten Eingriffe in die Tarifautonomie.

„Früher schlug man Geld aus Metallblech heraus. Viel einfacher ist es, Kapital aus Menschen he-
rauszuschlagen.“4

Siehe auch „Medien“.

DGB

14. März: Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder zur Reform der Sozialsysteme und des Arbeitsmarktes („Agenda 2010“). – Beim Ersten Mai werden etwa 10.000 Teilnehmer gezählt. Es sind doppelt so viele wie letztes Jahr. Bei der Abschlusskundgebung – es sprechen Helmut Schmid, Christian Ude und Fritz Schösser – mangelt es auch von gewerkschaftsoffizieller Seite nicht an kri-
tischen Tönen gegen die „Agenda 2010“ des Kanzlers.

Schösser fungiert seit 1990 als Vorsitzender des bayrischen DGB. 1998 bis 2005 ist er SPD-MdB und gilt als scharfer Kritiker des Agenda-2010-Kurses. Wie wird er sich bei Abstimmungen verhal-
ten?5


EINZELHANDEL

Der Bundestag beschließt am 13. März die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten an Samstagen auf 20.00 Uhr. Diese Neuregelung tritt am 1. Juni in Kraft. Wird es ähnlich wie 1953 und 54 in München zu militanten Auseinandersetzungen um den Ladenschluss kommen?

Im festgefahrenen Tarifkonflikt des Einzelhandels hat ver.di ihre Warnstreiks ausgeweitet. In Bayern wurden am Mittwoch, 28. Mai, mehr als hundertdreissig Filialen von Schweinfurt bis München bestreikt, wie ver.di-Verhandlungsführer Hubert Thiermeyer am 29. Mai in München sagt. In Baden-Württemberg kommt es in Freiburg, Pforzheim und Ludwigsburg zu Warnstreiks. Am Freitag, 30. Mai, gehen die Tarifverhandlungen in Bayern in die fünfte und in Baden-Würt-
temberg in die vierte Runde.

Die Tarifverhandlungen für den Einzelhandel in Bayern werden trotz eines neuen Lohnangebots der Arbeitgeber am 3. Juni vertagt. ver.di erklärt, auch im Streit über Lohnzuschläge für die ver-
längerten Samstagsöffnungszeiten sei kein Ende abzusehen. Die Arbeitgeber bieten bei der sech-
sten Verhandlungsrunde am Dienstag in München an, die Löhne für die 380.000 Beschäftigten bei einer Laufzeit von 24 Monaten schrittweise um insgesamt 3,6 Prozent zu erhöhen. In den ersten drei Monate solle es aber keine Anhebung geben. ver.di lehnte das Angebot als inakzeptabel ab. — Der große Einzelhandel freut sich über die neuen Öffnungszeiten am Samstag, die seit dem 7. Juni gelten, die Beschäftigten freuen sich nicht.6

EPCOS

Am 14. November demonstrieren die MitarbeiterInnen von Epcos aus Heidenheim vor der Münch-
ner Firmenzentrale.7

FLUGHAFEN

Die Vereinigung Cockpit (VC) und ver.di rufen gemeinsam am Freitag, dem 7. November, das fliegende Personal der Fluggesellschaft dba zu einem Warnstreik auf. Aktionen finden in den frühen Morgenstunden zwischen 5.30 und 8 Uhr statt. Betroffen sind alle dba-Stationen (Berlin, München, Köln und Düsseldorf). Hintergrund der Auseinandersetzung ist der im Juni von Seiten des Arbeitgebers gekündigte „Tarifvertrag Personalvertretung“, der die Grundlage für die betrieb-
liche Mitbestimmung in jedem renommierten deutschen Flugbetrieb darstellt, da Piloten und Flugbegleiter vom Betriebsverfassungsrecht ausgeschlossen sind.

SIEMENS

Siemens verlagert Arbeitsplätze ins Ausland. Der Betrieb in der Hofmannstraße wird aufgelöst. Anfang des Jahres erhalten 366 Angestellte, viele ältere von ihnen unkündbar, den blauen Brief. Wer unkündbar ist, soll freiwillig in eine Beschäftigungsgesellschaft wechseln. 360 klagen dagegen vor dem Arbeitsgericht.

Mai 2003: Der Konzern hat versucht, die aktuelle Broschüre „Schöne Neue Siemens Welt“ des isw und der IG Metall Bayern, in der es um die Massenentlassungen im Standort München Hofmann-
straße und den starken und einfallsreichen Widerstand von Betriebsrat und Belegschaft geht,
die damit Hunderte Arbeitsplätze retten konnten, gerichtlich zu stoppen. Angeblicher Grund: Verwechslungsgefahr mit einer Hauspostille. Das Landgericht München I erklärt den Antrag für unbegründet – nicht nur wegen fehlender Verwechslungsgefahr, sondern auch, weil neben die titelschutzrechtliche Betrachtungsweise der höher zu bewertende Schutz der verfassungsrechtlich garantierten Meinungs- und Vereinigungsfreiheit trete. Deshalb habe der Konzern auch die Ver-
teilung „schriftlichen, kritischen Informationsmaterials“ hinzunehmen.8 Aber die Firma lässt nicht locker. Unbequeme Lohnabhängige werden gefeuert.9

»SIEMENS FEUERT. Kündigung. Wer aufmuckt, muss gehen, heißt es bei Siemens. Der Technolo-
giekonzern in München kündigte in der vergangenen Woche einer Angestellten wegen angeblicher Diffamierung ihres Arbeitgebers. lnken W. hatte sich am Aufbau eines gewerkschaftsnahen Netz-
werkes der vom Personalabbau bei Siemens betroffenen Beschäftigten beteiligt. Sie soll in einer E-Mail an die Mitglieder des Netzwerks den Selbstmord einer nach 33 Jahren entlassenen Kollegin bekannt gegeben und zu mehr Zusammenhalt unter den Mitarbeitern aufgerufen haben. Ein Spre-
cher der IG Metall sagte dazu, die Siemens-Manager „wollen eine unbequeme Mitarbeiterin los-
werden, die sich in den letzten Monaten unermüdlich für ihre Kollegen engagiert hat“. Die Soft-
ware-Qualitätsmanagerin bekam eine verhaltensbedingte fristlose Kündigung und noch eine or-
dentliche Kündigung dazu. Jetzt kann in Ruhe weitergearbeitet werden.«10

STÄDTISCHE MITARBEITER

Am 7. November veranstalten städtische Mitarbeiter anlässlich der Aktion „Reformen statt Kahl-
schlag“ eine Kundgebung auf dem Marienplatz. Städtische Mitarbeiter verhüllen die Figuren des Glockenspiels schwarz. Unter dem Glockenspiel spannt sich ein Transparent „München vor dem Ruin“. Auf Spruchbändern der Demonstrantinnen und Demonstranten steht „So wird nie was aus der Pisastudie“, „Als ich meine Wartenummer zog, war ich noch jung“, „Wasser zum Selberlöschen 1 Eimer nur 10 €“. Auf einem mitgetragenen schwarzen Sarg, auf dem eine schwarze Vogelscheu-
che steht, ist zu lesen: „KVR Bürgerservice 11

„Die Personalratssitzung / oder die / wohl verhaltene Einvernehmlichkeit – / Auf dem Meeresbo-
den brodelt der Vulkan, / an der Oberfläche wird nur noch Dampf abgelassen – / Im kleinen Kreis wird besprochen, / was es bedeutet, dem Kollegen die Lohnaufbesserung / um etliche Monate zu verzögern. – / Der Teufel steckt im Detail, / es gib jedoch keinen Grund, / sich vom Teufel besetzen zu lassen! – / Aus welchem elitären Regal / nimmt der Betriebsleiter / das Recht, dem Kollegen / in die mageren Taschen zu greifen, / ihm die berechtigte Lohnaufbesserung / zu verweigern? – / Diese Personalratssitzung / bestärkt meine lange Wut, / meinen Willen zur Veränderung. –“ Wolf-Dieter Krämer

(zuletzt geändert am 27.10.2024)


1 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 11. Februar 2003.

2 Vgl. www.m-sf.de/archiv-aktionen-2003-10.php#kreuz.

3 Jungle World 47 vom 12. November 2003, 4.

4 Manfred Ach, Unkraut. Unverdorbenes vom Mönch, München (um 2003), 2074.

5 Siehe https://jungle.world/artikel/2003/41/sag-einfach-jein.

6 Siehe „Stinksaure Beschäftigte“.

7 Vgl. Münchner Lokalberichte 24 vom 27. November 2003, 3.

8 Vgl. dazu auch Luise Rauschmayer, Siemens – Ein Konzern entlässt seine Kinder, in: Münchner Lokalberichte 21 vom 16. Oktober 2003, 8 ff.

9 Siehe
- „Goliath prallt auf David“ von Jack-Peter Trent,
- „Aktive Gewerkschafterin fristlos gekündigt!“,
- „Massenentlassungen und Widerstand bei Siemens“ und
- „Siemens Hofmannstraße: Widerstand und Reaktionen des Konzerns“.

10 Jungle World 47 vom 12. November 2003, 11.

11 Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen 6613