Flusslandschaft 2004

Rechtsextremismus

Der 20. März 2004 ist der Jahrestag des Beginns des Irakkrieges. Die NPD meldet eine Kund-
gebung unter dem Motto „Der Irakkrieg war ein Verbrechen“ an. „20. März: Lediglich rund 80 Neonazis finden den Weg zum Münchner Stachus, um dort nach einer Auftaktkundgebung um-
ringt von einem enormen Polizeiaufgebot und deutlich mehr GegendemonstrantInnen ihren De-
monstrationszug zum US-Konsulat an der Königinstraße 5 – 7 durchzuführen. Der erst knapp eine Woche zuvor aus der Haft entlassene Norman Bordin war bereits wieder im Einsatz, gerade recht-
zeitig, wo doch in jüngster Zeit die Reihen der führenden Aktivisten in München stark gelichtet wurden: Sowohl Martin Wiese als auch Sascha Wagner sitzen gegenwärtig in Haft. Neben NPD-FunktionärInnen wie Gisela Böhmer (NPD Niederbayern) und Günter Kursawe (ehemals stellver-
tretender Vorsitzender des 1993 verbotenen »Nationalen Blocks« und heute NPD-Funktionär) zeigt sich auch der Vorsitzende des Münchner Vereins »Demokratie Direkt«, Roland Wuttke, sehr aktiv und fungierte zweimal als Redner.“1 Am gleichen Tag hat sich auch das Münchner Bündnis gegen den Krieg zusammengefunden. Redner des Bündnisses fordern auf, gegen die Neonazis zu protestieren. Das ruft die Justiz auf den Plan.2

Am 25. April will eine dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnende Gruppe an der Feldherrnhalle eine Mahnwache zur Erinnerung an Reinhold Elstner, der sich am 25. April 1995 vor der Feld-
herrnhalle verbrannt hat, durchführen, muss diese aber auf Anordnung der Münchener Stadtver-
waltung an einen anderen Ort verlegen. Ein gegen diese Anordnung gerichtetes gerichtliches Ver-
fahren bleibt ohne Erfolg.

Am 9. Juni explodiert in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe. Einen Tag später meint Innen-
minister Otto Schily (SPD), die bisherigen Erkenntnisse deuteten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, obwohl die Anwohnerinnen und Anwohner rechtsextremistische Täter vermuten. Die Polizei vermutet die Täter in den Reihen der „Türkenmafia“, Polizeireporter Spilcker spricht von „Döner-Morden“. Die Medien übernehmen die Sprachregelungen der Politik, der Polizei und der Behörden. Erst 2011 wird klar: Täter war der Nationalsozialistische Untergrund (NSU).

Für den 25. Juli plant das Institut für Staatspolitik eine Veranstaltung im Löwenbräukeller am Stiglmaierplatz. Nach Interventionen kündigt der Wirt den Mietvertrag.3

17. August: Rund dreißig Rechtsextreme, darunter Mitglieder der sogenannten Kameradschaft München (ehemals Aktionsbüro Süd) und NPD-Mitglieder halten für Rudolf Hess, „Märtyrer für Europa“, eine Mahnwache am Richard-Strauß-Brunnen in der Fußgängerzone ab. Versammlungs-
leiter ist Hayo Klettenhofer, Norman Bordin hält eine kurze Ansprache, die NPD-FunktionärInnen Renate Werlberger und Günter Kursawe verteilen währenddessen außerhalb der großräumigen Absperrung ungehindert Flugblätter. Nur wenige GegendemonstrantInnen finden sich ein, stören aber mit Lärm die Kundgebung der Neonazis erheblich. Einer der Rechtsextremen greift eine Antifaschistin an und schlägt ihr ins Gesicht. Festgenommen wird er deshalb allerdings nicht.

„Eine Skinhead-Musikgruppe veranstaltet am 20. August auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau ein Privatkonzert mit Liedern rechtsextremistischen Inhalts; die Texte solcher Nazibands, hier ein Beispiel der Gruppe »Macht und Ehre«, wollen provozieren, während sie gleichzeitig ein Weltbild reflektieren, das durch die Aufklärungsversuche moderner »Vergangenheitsbewältiger« nicht beeinflussbar erscheint: »Komm mal her. du altes Judenschwein / ich trete dir mal die Fresse ordentlich ein / Du bist der letzte Abschaum und musst hängen am nächsten Baum / An der Pap-
pel leuchtest du wirklich gut, du stinkendes Judenblut / Mit dem Waschen haben wir keine Sorgen, denn Juden sind als Seife geboren.«“4 Während der Fahndung im Stadtgebiet von Dachau können die Skinheads in Gewahrsam genommen und ihre Personalien festgestellt werden.

Am 9. November 2003 sollte bei der Grundsteinlegung für das neue Jüdische Kulturzentrum am Jakobsplatz eine Bombe explodieren. Am 6. Oktober 2004 beginnt der Prozess gegen Mitglieder der Kameradschaft Süd.5

Am 22. Oktober trifft sich der „Kameradenkreis der Gebirgsjäger“ zu Jahreshauptversammlung in der Schwanthalerstraße 79. Etwa vierzig Leute demonstrieren dagegen.6

„Ursprünglich hat die Kameradschaft München für den 9. November eine Kundgebung in der Fuß-
gängerzone angemeldet, das Kreisverwaltungsreferat untersagte dies jedoch. Rund fünfzehn Neo-
nazis versammelten sich trotzdem am 9. November am Goetheplatz. Am 10. November halten dann fünfzehn überwiegend jugendliche Neonazis – darunter Bordin, Roland Wuttke und Kletten-
hofer – in der Münchner Fußgängerzone eine Mahnwache gegen »Polizeiterror« und anderes ab.“7 Bereits während der Versammlung haben sich etwa 60 bis 70 Gegendemonstranten versammelt. Die Polizei nimmt achtzehn der meist minderjährigen Münchner AntifaschistInnen fest. Laut Poli-
zeiangaben soll es nach der Veranstaltungen zu gewaltsamen Ausschreitungen ausgehend von einer „Gruppe der Linken“ zwischen Nazis und Antifaschisten gekommen sein. Die achtzehn Ge-
fangenen bleiben bis zum Nachmittag des nächsten Tag eingekerkert. Während dieser Zeit, heißt es, kommt es neben massiven Einschüchterungsversuchen auch zu gewaltsamen Übergriffen sei-
tens der Polizei. Da alle achtzehn in Einzelhaft sitzen, wird dies aber wohl nie zu beweisen sein. Am 11. November zwischen zwei und drei Uhr nachts stürmen neun Beamte des K-142 (politische Poli-
zei) die Wohnung des Sprechers der SDAJ in Dachau und beschlagnahmen den privaten Computer des derweil noch in Arrest Sitzenden. Sein Mitbewohner zu diesem Ereignis: „Es war ein Schock. Ich hörte wie jemand durch die Wohnungstür kam und dachte es wäre mein Mitbewohner. In der halbdunklen Wohnung stand ich plötzlich einer bewaffneten Meute gegenüber. Einer der Polizisten zielte mit seiner geladenen und entsicherten Waffe auf mich.“ Derweil sind alle AntifaschistInnen wieder auf freiem Fuß, aber es wird weiter gegen sie ermittelt.

Siehe auch „Armut“ und „Internationales“.


1 www.aida-archiv.de

2 Siehe
- „Münchner Polizei und Staatsanwaltschaft wollen freundliche Demonstrationsatmosphäre für Neo-Nazis durchsetzen“ von Sigi Benker,
- „Der Aufstand der Anständigen ist keine unanständige und kriminelle Handlung“ von Sigi Benker und
- https://taz.de/Rote-Karten-nicht-erlaubt/!439038/.

3 Siehe „Vom Löwenbräukeller zur Burschenschaft Danubia“ von Max Brym.

4 Robert Schlickewitz, Sinti, Roma und Bayern. Kleine Chronik Bayerns und seiner „Zigeuner“, 2008, www.sintiromabayern.de/chronik.pdf, 179 f.

5 Siehe „Braune Mädchen, Bomben und ein V-Mann“ von Max Brym sowie https://jungle.world/artikel/2004/49/disziplin-und-tnt.

6 Vgl. Münchner Lokalberichte 23 vom 11. November 2004, 10.

7 www.aida-archiv.de