Flusslandschaft 1961
Religion
In München erscheinen die kirchenkritischen Werkhefte katholischer Laien – Zeitschrift für Pro-
bleme der Gesellschaft und des Katholizismus.1 Gerd Hirschauer koordiniert die Publikation.2 1961 erscheint von Martin Walser herausgegeben „Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regie-
rung?“ als erster Band einer neuen Reihe „rororo aktuell“. Das Buch sorgt für Aufsehen, weil es all-
gemein tabuisierte Fragen aufwirft. Hirschauer fordert darin „einen ‚aufgeklärten Absolutismus’ einer qualifizierten Mehrheit solcher, die die demokratische Entwicklung eines noch nicht demo-
kratischen Volkes ernster nehmen als die Befriedigung seiner autoritären Bedürfnisse … Wir brau-
chen einen Staat, in dem man mit der Regierung nicht so unzufrieden sein braucht wie mit dem Wetter, sondern in dem es eine produktive Beschäftigung ist, mit ihr unzufrieden zu sein.“3 Chri-
stian Geissler über den linkskatholischen Zusammenhalt: „… Da wo über uns geschrieben wurde, in bürgerlichen oder katholisch-bürgerlichen Zeitungen, wurde uns die Zusammenarbeit mit Kom-
munisten vorgeworfen wie auch die Beziehung einiger von uns zu Katholiken in der DDR. Wir tra-
fen uns auch mit Polen von Pax Christi. Eine Bewegung, die als Staatssicherheitsbewegung inner-
halb der katholischen Christenheit denunziert wurde. Wir trafen uns mit denen, wir waren auch unverschämt naiv in dieser Beziehung. Wir haben uns um Geheimdienst oder Stasi nicht geküm-
mert. Wir sind hingefahren und haben gemacht. Oder wollten machen. Und waren drüben natür-
lich ‚westdeutsche Friedensfreunde’. Man hat uns hier nicht nur des Kommunismus verdächtigt, man hat uns Ärger gemacht. Und ein Mann wie Hirschauer, der eigentlich der Kopf unserer Ar-
beitsgruppe war, ein hochgebildeter Theologe und Philosoph, konnte finanziell über Jahrzehnte nur noch überleben, weil wir einen Förderkreis hatten — von katholischen Lehrern, katholischen Richtern, eine Clique, aus dem Bensdorfer Kreis hervorgegangen, die ständig zahlte …“4
Die intellektuelle Szene in Polen ist unzufrieden. Das kommunistische Regime setzt das Gegenteil von dem durch, was die herrschende Propaganda behauptet. Der Philosoph Leszek Kolakowski prangert das „Leben in der Lüge“ an und plädiert für einen Sozialismus der Wahrheit mit mensch-
lichem Antlitz. Die polnischen „Revisionisten“ bleiben bewusst Mitglieder der kommunistischen Partei und fordern zugleich grundlegende Veränderungen. – 1960 ist in der Bundesrepublik Kola-
kowskis „Der Mensch ohne Alternative“ erschienen.5 Nun stellt Gerhard Szczesny im „Nachtstu-
dio“, das der Bayerische Rundfunk nach 23 Uhr sendet und das bei den zumeist schlaflosen Intel-
lektuellen sehr beliebt ist, Kolakowskis Thesen vor. Das Erzbischöfliche Ordinariat schaltet sich ein. Kirche und Staat fordern Zensur. Jetzt reicht es Szczesny. Am 6. Juni lädt er rund zweihundert ausgewählte Personen ein, eine Institution als ein Gegengewicht gegen geistige Bevormundung zu gründen. Um ihn, Hans Kilian, Jürgen Böddrich und viele andere entsteht am 26. August die Hu-
manistische Union (HU), die als die erste und zugleich größte Bürgerrechtsorganisation der Bun-
desrepublik bezeichnet werden kann. Damit bilden sich auch persönlich-informelle Zusammen-
hänge heraus, die in Prozesse münden, die die sozialliberale Koalition der 70er Jahre vorbereiten helfen.6 – „In den Mauern Münchens ließ sich dieser Tage ein neuer Club nieder, der die Stadt nicht reicher, sondern ärmer macht. Ärmer nämlich um die Hoffnung, dass die Feinde des Chri-
stentums es nicht wagen würden, offen gegen die Kirchen zu Felde zu ziehen. Sie haben es getan! Unter dem Deckmantel der ,HUMANISTISCHEN UNION’ haben die Atheisten einen Kampfbund gegründet, an dessen Spitze der zur Zeit wohl berüchtigste Vertreter antikirchlicher Parolen steht: Gerhard Szczesny. Mitten im Herzen eines Katholischen Landes schließen sich die Kirchengegner zu einem ungetarnten Kampfbund zusammen! Das ist die Offensive des Unglau-
bens!“7
Eine Zeitenwende kündigt sich an. Traditionelle Werte verlieren an Bedeutung. Das Neue ist noch diffus, unerklärbar, bedrohlich. Da treten wortmächtige Propheten auf, die den Verfall der Sitten beklagen, die zur Rückbesinnung mahnen. Jesuitenpater Leppich (46), genannt das „Maschinenge-
wehr Gottes“, meint 1961 über das Nachrichtenmagazin Spiegel: „In Hamburg laufen die Rotati-
onsmaschinen des Satans auf Hochtouren.“ Bei einer Massenpredigt in München im Sommer 1959 wetterte er „gegen den ‚Rosinen-Katholizismus’, forderte die ‚religiöse Entrümpelung’ der Bayern-Hauptstadt: ‚München, was hast du aus dem Weihnachtsfest gemacht! Es ist nicht damit getan, dass man für Essen und Trinken sorgt und dann singt: „O Knabe im lockigen Haar!“ – dieses Fri-
seur-Lied!’ Noch drastischer gerieten ihm seine Formulierungen angesichts des ‚Teufels’ Sexuali-
tät. ‚Und jetzt frage ich dich, Mädel: Kennst du den Mann denn, mit dem du dann eines Tages vor den Traualtar trittst? Ist er auch einer von jenen Tangojünglingen mit Augenrändern so groß wie Autoreifen? Weißt du denn nicht, dass in jedem Mann ein Raubritter steckt? Hüte dich, den Casa-
nova in ihm herauszufordern! Sonst wird er an deiner Seite wie ein Flakscheinwerfer mit geilen Augen die Straße nach sexueller Aufputschung abgrasen, wird dich dann später in der Ehe miss-
brauchen, wegwerfen, wenn er dich leid ist, wie eine alte Serviette.’“8
Monsignore Anton Brandmüller, seit 1948 Religionslehrer, später stellvertretender Schulleiter am Wilhelmsgymnasium und seit 1960 Vorsitzender des Verbandes katholischer Religionslehrer an den Gymnasien in Bayern, schreibt 1961 an die Zeitschrift contra, die er wie viele seiner Zeitge-
nossen mit dem „Stürmer“ und dem „Schwarzen Korps“ in einen Topf wirft. Rolf Gramke antwor-
tet.9
1 Zuerst unter dem Titel Werkhefte für katholische Laienarbeit 1947 erschienen, dann unter dem Titel Werkhefte katholi-
scher Laien. Das letzte Heft erschien im Dezember 1973. AutorInnen waren u.a. Wolfgang Abendroth, Heinz Brandt, Heinrich Böll, Ossip Flechtheim, Heinrich Hannover, Gustav Heinemann und Maria Rieger.
2 Siehe „Ein Sherpa der Bürgerrechte“ von Carl Wilhelm Macke.
3 Gerd Hirschauer: „Brauchen wir eine neue Regierung?“ in Martin Walser (Hg.), Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung, Reinbek bei Hamburg 1961, 14 ff.
4 Prozess im Bruch. Ein Gespräch mit Christian Geissler nach dessen Eintritt in das achte Lebensjahrzehnt von Klaus Mellenthin in analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis 431 vom 21. Oktober 1999.
5 Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein, München 1960.
6 Siehe „Aufpassen auf den Bayerischen Rundfunk!“ von Klemens Krüger, Szczesnys „Vorschlag, eine ‚Humanistische Union’ zu gründen“ und Szczesnys „Betr.: ‚Humanistische Union’“. Nach Till Müller-Heidelberg hat das Verbot einer Aufführung von Mozarts Figaro in Augsburg wegen des „unsittlichen“ Bühnenbilds auf Veranlassung der katholischen Kirche bei Czcesny das Fass zum Überlaufen gebracht; vgl. Till Müller-Heidelberg: „Die HUMANISTISCHE UNION als älteste deutsche Bürgerrechtsorganisation. Geschichte und Perspektive“ in vorgänge 155, Heft 3 vom September 2001, 13.
7 Neue Bildpost vom 3. Dezember 1961, zitiert in: Christian Szczesny: „Mein Großvater Gerhard Szczesny“ in vorgänge 155, Heft 3 vom September 2001, 27 f.
8 Damals. Das Magazin für Geschichte, Leinfelden-Echterdingen 10/98, 9; siehe „Psychopater Leppich“ von Rolf Gramke.
9 Siehe „Lieber Herr Brandmüller!“ von Rolf Gramke.