Flusslandschaft 1981
Freizeit '81 (II)
Am 30. April besetzen etwa fünfzig Jugendliche ihr Zentrum in Sendling; sie verlangen erfolgreich die Selbstverwaltung.
Bei einer Podiumsdiskussion zum Thema „Polizei, Prügelknabe oder Helfer“ kommt es am 13. Mai unter Einsatz von Tränengas zu acht Festnahmen.
Am 22. Mai besetzen Jugendliche für vier Stunden die Ursula-Kirche.19 „Sieben Kleinkinder und fünf Frauen besetzten am 23. Mai ein Haus in der Winthirstraße. Nach 35 Minuten verließen sie nach Aufforderung der Polizei freiwillig das Haus. Es wurden keine Strafanträge gestellt.“20
2. Juni: Die Erinnerung an den Mord an Benno Ohnesorg vor vierzehn Jahren dient als Anlass für eine Kampfansage in einem Flugblatt.21
3. Juli: Sachbeschädigung und eventuell versuchter Brandanschlag, Fraunhoferstraße 2.
„WIR SIND ENTSETZT
Wir Eltern und Ältere sind ENTSETZT, dass Menschen, die sich für das Recht auf Wohnung und vernünftige Miete einsetzen, zu Kriminellen abgestempelt werden.
Wir sind ENTSETZT, dass junge Menschen, anstatt eine Wohnung zu finden, im knast landen.
Wir sind ENTSETZT, dass Willkür statt Recht gehandhabt wird.
Wir Eltern und Ältere stehen hinter unseren Jungen. Wofür sie auf die Straße gehen, geht uns alle an: WOHNUNGSNOT und SPEKULANTENTUM.
Wir verwandeln unser Entsetzen in Handeln.
Mit dem Sternmarsch der Münchner Mieterinitiativen sind wir dabei!
Kommt alle!
SAMSTAG, 4. Juli, 10 Uhr – ab Pariser Platz“22
4. Juli: Hausbesetzung in der Blutenburgstraße 57 in Neuhausen. In der „Blubu“ müssen die war-
tenden Hundertschaften allerdings zunächst unverrichteter Dinge abziehen. Die Besetzer schließen einen Vertrag mit dem Eigentümervertreter und ziehen erst nach der Durchbrechung der 24-Stun-
den-Schallmauer wieder ab.23 Anders erinnert sich Olli Nauerz: Später, als die Besetzer nicht ge-
hen wollten, verweigerte die Polizei den Hausbesitzern die Räumung. – 11. Juli: Die Hausbesetzer in der Blutenburgstraße feiern ein Fest. Hier kommt es zur Idee einer Scheinbesetzung. Man zieht in die Gümbelstraße, begibt sich in ein leerstehendes Haus und verziert es mit einem Transparent. Als die Polizei anrückt, verlassen die Besetzer das Haus und mischen sich unter die Schaulustigen, die Beamten stürmen das Haus, entfernen das Transparent. Ohne jemanden festnehmen zu kön-
nen, versuchen die Polizisten das Gebäude zu verlassen, werden aber dabei mit einem Hagel von Feuerwerkskörpern eingedeckt. Irgendwann gehen die Knallkörper aus, die Polizei verlässt das Haus, F 81 fährt inzwischen mit dem Auto durch die Stadt und entglast elf Banken und diverse andere Gebäude bis in den Morgen des 12. Juli.24 – Am 16. Juli nimmt die Polizei in einer überra-
schenden Aktion achtzehn Menschen vor dem besetzten Haus fest.25 Am vorletzten Tag der Beset-
zung, am 17. Juli, wurden einunddreißig Sympathisanten festgenommen.
9. Juli: großangelegte F 81 Sprühaktion Neuaubing/Westkreuz (109 Fotos bei der Polizei).
F 81 Sprühaktion Winthir-Schule und Umgebung in Neuhausen.
18. Juli: Sachbeschädigung Türkenstraße 30, F 81 Entglasung Bankhaus Reuschel, Friedenhei-
merstraße.
30. Juli: F 81 großangelegte Sprühaktion in der Innenstadt.
Nach dem Molotow-Anschlag am 24. August auf die Filiale der Dresdner Bank in der Fürstenrie-
derstraße 34 in Laim durchsuchen Polizeikräfte siebzehn Wohnungen und verhaften unter anderen auch Andrea Wolf.26 – „Presseerklärung: Verantwortung für den Anschlag auf die Bank in der Für-
stenrieder Straße trägt die Bewegung FREIZEIT ’81. Wir erklären allen konsumgerichteten Ein-
richtungen und überhaupt jeder Institution den Krieg. PASST BLOSS AUF. BEWEGUNG FREI-
ZEIT ’81! Jetzt noch härter“27
6. September: F 81 Versuchter Brandanschlag auf Camerloher Schule.
11. September: F 81 Versuchter Brandanschlag auf Filiale der Raiffeisenbank, Gelbhofstraße.
18. September: F 81 Brandanschlag auf Süß & Bierl Kücheneinrichtungshaus, Eduard-Schmid-Straße 18.
22. September: In Berlin werden acht Häuser geräumt. Innensenator Lummer hält im zuletzt ge-
räumten Haus, vor dem mehrere hundert Leute protestieren, eine Pressekonferenz ab. Die Poli-
zei treibt die Protestierenden in den offenen Verkehr. Dabei wird der 18jährige Klaus-Jürgen Rat-
tay von einem fahrenden Bus erfasst und zu Tode geschleift. Am 23. September findet in München ein Demonstrationszug zum Gedenken an Rattay statt. Bei der anschließenden Spontandemo in Altschwabing mit Glasbruch (Springerhaus) kommt es zur Festnahme von fünf Leuten, drei Haftbefehle.28 Am folgenden Tag demonstrieren spontan dreihundert Leute gegen die Festnah-
men.
24. September: Brandanschlag auf das Bürogebäude der Gewerkschaft der Polizei.
Am 26./27. September kommt es zur vierstündigen Hausbesetzung in der Eduard-Schmid-Straße 19 in der Au. Nach der brutalen Räumung werden fünf Personen mit Schädelplatzwunden ins Krankenhaus eingeliefert, auch Schaulustige werden niedergeknüppelt.29 Siehe auch „Zensur“. Die Misshandelten erstatten Strafanzeige. Ein Jahr später meint Justizminister Hillermeier: „Es liegen keine Angaben von Polizeibeamten vor, die Rückschlüsse auf Misshandlungen durch bestimmte andere Beamte zuließen. Die Staatsanwaltschaft hat keine gesetzliche Handhabe, die beteiligten Beamten zu belastenden Aussagen gegen Kollegen zu bewegen … Die Staatsanwaltschaft hat be-
richtet, dass mehrere Aussagen von Beamten nicht zutreffend sein könnten, es sei aber nicht auf-
zuklären, bei welchem Beamten im einzelnen unrichtige Angaben vorlägen.“ Herbert Riehl-Hey-
se: „Wie sich die Aufklärungsbemühungen seinerzeit abgespielt hatten, war in der SZ auch berich-
tet worden: Die verdächtigen Polizisten wurden bei einer Massengegenüberstellung unter 117 an-
dere Beamte gemischt, was – nicht weiter überraschend – dazu führte, dass keiner als Täter hatte überführt werden können.“30
26./27. September: Die F 81 versucht einen Brandanschlag auf die Filiale der Bayerischen Ver-
einsbank, Richard-Strauß-Straße 24.
27. September: F 81 Brandanschlag auf Filiale der Bayerischen Vereinbank, Burgkmairstraße, Sprühaktion KZ Dachau.
2. Oktober: Filmvorführung im Café Ruffini zu Klaus-Jürgen Rattay, danach Sachbeschädigung Feinkost Käfer (Besprühung der Lieferfahrzeuge, mit Bekennerschreiben F 81) und rund um den Ostbahnhof.
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Ein Flugblatt informiert über die Autonummern von Zivilstreifen. Anfang Oktober erscheint ein Fahndungsplakat: „Zivilpolizisten – Vorsicht Schusswaffen!“
„In der Nacht zum 7. Oktober erfolgte ein Brandanschlag auf das Büro der Lufthansa am Lenbach-
platz. Eine Person wurde in der Nähe des Tatortes festgenommen. Da bei der Person Flugblätter mit der Unterschrift ‚Freizeit 81’ gefunden wurden, sitzt sie seitdem in U-Haft. Am selben Abend gab es aus diesem Anlass eine Razzia in einer Schwabinger Kneipe.“32
7. Oktober: Knallhart wird beim Benzinklauen erwischt, Hausdurchsuchung (Flugis, Freizeit-Hef-
te, Briefe …)
10. Oktober: Versuchte Brandlegung in der Sedanstraße.
Am 16. Oktober werden siebzehn Wohnungen durchsucht und zwei Frauen und fünf Männer der F 81 verhaftet. „Zwei Leute wurden, nachdem sie Aussagen gemacht hatten, auf freien Fuß gesetzt. Am 3. November wurde im Zusammenhang mit den Hausdurchsuchungen eine weitere Person verhaftet. Alle acht Gefangenen sitzen seither in strenger Einzelhaft.“33 Was ist geschehen? Knall-
hart hat als Kronzeuge der Staatsmacht alles erzählt, was diese hören wollte. Unter den Verhafte-
ten sind Florian Süßmayr, Anatol Nitschke und Andrea Wolf. Am 5. November findet ein Benefiz-
konzert für die Verhafteten in Ampermoching statt. Es spielen The Schrott, Checkpoint Charlie und Schäggy Bätsch.
Wolfgang Bihlmeir vom Werkstattkino muss als „Rädelsführer“ über ein Jahr hinter Gitter: „Ich war eine Zeit lang in Zürich, so Ende der 70er, Anfang der 80er, als es da total abgegangen ist (‘Züri brennt’). Und wie ich wieder zurück in München war, hab ich mir gedacht: hier ist es total fad. Überall gabs Hausbesetzungen und Action, nur in München nicht (‘Zürich brennt – München pennt’). Es musste einfach was passieren und da hab ich mir gedacht: jetzt mach ich was. Als erstes hab ich einen Flyer gemacht mit einem Aufruf zu einer Spontan-Demo in der Innenstadt. Veran-
stalter gabs natürlich keinen. Da kamen dann ein Haufen Punks. Mit solchen Aktionen hab ich dann die richtigen Leute kennen gelernt und daraus hat sich dann schnell Freizeit 81 entwickelt. Mit Freizeit 81 haben wir dann verschiedene Aktionen gemacht: Filmprogramme, Veranstaltun-
gen, Demos, Konzerte, Flugblätter, Zeitungen, Sprühaktionen, Bankenschlösser zukleben, Steine und Mollies und andere Aktionen. Jetzt ist endlich auch in München was passiert. Und das Wich-
tigste dabei war: selber was zu machen, nicht nur rumhängen und sich ärgern. Freizeit 81 hat im Jahre 1981 stattgefunden – der Name war programmatisch. Was macht man in seiner Freizeit? Man macht Unsinn oder man schmeißt Mollies. Freizeit 81 war ein lockerer Verbund von Leuten, die viel gemacht haben, die aber auch sehr naiv waren und nicht aufgepasst haben. Als uns dann ein Spitzel verpfiffen hat, sind wir zu siebt in den Knast gewandert. Das war die logische Folge, wenn man so offen agiert. Wir wollten aber so agieren, wollten nicht vorsichtig und konspirativ als abgeschottete, kleine Gruppe vorgehen. Am Schluss haben sich bestimmt 50 bis 100 Leute zu Freizeit 81 gezählt und bekannt. Den harten Kern bildeten vielleicht zehn Leute. Freizeit 81 hieß auch unsere Zeitung, wo wir zwei Ausgaben veröffentlichten. Eine dritte und letzte Ausgabe wurde dann noch herausgebracht, als wir im Knast waren.“34
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31. Oktober: Versuchte Entglasung bei der Bank für Gemeinwirtschaft, Albert-Schweitzer-Straße in Neuperlach, Entglasung/Versuchter Brandanschlag beim Büro der Neuen Heimat.
Die F 81 legt bei ihren Veröffentlichungen Wert darauf, dass eine radikal neue Form konsequent alle konventionellen Ästhetiken aufhebt und dabei Grenzen überschreitet: Jede wahre Sprache ist unverständlich. Oder anders: In der Tradition festgeklebte Sprachen plappern das schon immer Gesagte, eine wahre Sprache vermittelt Subtexte, neue Zusammenhänge, Schwingungen, Stim-
mungen, Gefühle … das Ganze.
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Seit Februar 1980 gab es bis zum Winter 1981/82 in München dreihundert Festnahmen, dreißig Haftbefehle und hundertundsiebzig rechtskräftige Verurteilungen mit Freiheitsstrafen bis zu 30 Monaten. Manche Aktivisten überlegen, ob sie nicht einfach abhauen sollen. Sie vermuten, dass das, was in München geschieht, Modellcharakter hat dafür, wie es nach der Vorstellung der Herr-
schenden überall sein sollte.
Noch Jahre später ist die F ’81 Thema. Es dominieren Fehleranalysen, Trotz, Wut und Resignati-
on.38
Siehe auch „Frauen“, „Stadtviertel“ und „Zensur“.
(zuletzt geändert am 24.12.2020)
19 Vgl. Süddeutsche Zeitung 118/1981.
20 Freizeit 81, Winter 1981, (11) unpag.
21 Siehe „2. Juni 1967“.
22 Abgebildet in: Börni, Annette, Ruth, Mathias, Hartmut (Wächtler), Christopher, Lilo, Billy und Andrea (Wolf) mit Beiträgen von Wolfi und Reinhard, Stark sein – stärker werden, München Januar 1984, 75.
23 Siehe „Happy End?“.
24 Vgl. Freizeit 81, Sommer 1981, (4) unpag.
25 Siehe „Angst im Gesicht“ von Michael.
26 Siehe „Stadtbesichtigung der Freizeit ’81“ von Angelus.
27 www.andrea.libertad.de/awbuch/s030.htm.
28 Siehe „Das Vermauern sämtlicher Fenster und Türen“; vgl. Süddeutsche Zeitung 218/1981 und 219/1981.
29 Siehe „Augenzeuge“ von Rolf Wilhelms, „Drunt in da schöna Au …!“ von Angelus und „Trauer und Wut“.
30 Süddeutsche Zeitung 279 vom 4./5. Dezember 1982, 8.
31 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
32 Freizeit 81, Winter 1981, (11) unpag. Siehe „Rhythmus und Kampf“ von Andrea Wolf und „Brief von Andrea an Tom“.
33 Freizeit 81, Winter 1981, (11) unpag.
34 Gaudiblatt 9 vom Mai 2011, unpag.
35 werden 80. Jahrbuch für die deutschen Gewerkschaften, Köln 1980, 195.
36 Freizeit 81, Winter 1981, (20) unpag.
37 Freizeit 81, Winter 1981, (20) unpag.
38 Siehe „Aufbegehren einer entfremdeten Jugend“ und „zustände“.