Flusslandschaft 1982

Alternative Szene

Nach der Freizeit ’81 entsteht die Frechheit ’82. Das zweite „U-Bahn-Fest“ findet am Samstag, 6. Februar, um 17.30 Uhr im U-Bahnhof „Münchner Frechheit“ (Freiheit) statt. Jugendliche, unter ihnen Rainald Goetz sowie viele Punker, singen, essen, trinken, rauchen und hören Musik aus dem Ghettobluster. Aufgerufen zum U-Bahn-Fest hat das Blatt. Es geht darum, dass die „Schwarzen Sheriffs“ Obdachlosen, Punkern und allen, die nicht in das herkömmliche Schema passen, das Leben schwer machen. Schließlich gehen immer mehr der Feiernden hinunter zu den Bahnsteigen und behindern die Abfahrt von Zügen, so dass die U-Bahn-Leitstelle den Verkehr der U3 und U6 von 18.24 bis 18.55 Uhr einstellt. Daraufhin ziehen etwa hundertfünfzig Jugendliche demonstrie-
rend die Leopoldstraße Richtung Innenstadt, demolieren Papierkörbe und Verkehrszeichen, und gehen über die Schelling-, Amalien- und Sendlingerstraße zum Sendlinger-Tor-Platz. Dort löst die Polizei die Demo auf und nimmt zwei Demonstranten fest.1 — Nach dem dritten „U-Bahn-Fest“ werden vierundachtzig Menschen verhaftet. — Bei manchen Alternativen macht sich Paranoia breit. Rainald Goetz wittert im Frühjahr 1982 Überwachung und versucht sich zu wehren, indem
er zurückfotografiert.2

Alternative Gruppen und einige Münchner Bürgerinitiativen schließen sich in einer Alternativen Liste München (ALM) zusammen. Das Bündnis plant die Teilnahme an der Stadtratswahl im März 1984. Mitten drin Thomas Ködelpeter, der gegenüber der Partei Die Grünen einige Vorbehalte hat. Andererseits ist die Vorstellung, dass zwei Gruppen sich zur Wahl stellen, die ähnliche Programme befürworten, abenteuerlich.

Die ALM beteiligt sich auch an der „Revolution“ am 18. und 19. März.3

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Bei einem „Festival der Möglichkeiten“, organisiert vom Netzwerk München e.V. (Heßstraße 80), präsentiert sich vom 28. Juli bis 1. August die „Alternative Woche“ auf dem Gelände des Glypto-
thek-Parks mit einem Singat’s, einem alternativen Jahrmarkt und einem Forum, in dem Carl Amery, Robert Jungk, Manfred Coppik und Petra Kelly sprechen.

Paul A. Feyerabend und Fritjof Capra lösen mit ihren Veröffentlichungen eine neue Bewegung in der Bewegung aus. Innerhalb der Subkultur entsteht ein neospiritualistischer Zweig, der das line-
are, analytische und rationale Denken mit einer intuitiven und spirituellen Komponente ergänzt. An der „Wende der Gezeiten“, im Zeitalter des Wassermanns, im New Age entfalte sich eine ganzheitliche und organische Sicht der komplexen Welt. Zu einem zentralen Verlag der neuen Bewegung wird der Münchner Trikont-Verlag (Josephsburgstraße 16), jetzt Dianus-Trikont (Agnesstraße 10), der mit dem Motto wirbt: „Wir sind konservativ geworden und revolutionär geblieben.“ Bei der „Linken“ stößt das auf Ablehnung, „Rechte“ freuen sich.5

Seit November existiert die Anstiftung, Forschungsgesellschaft zur Förderung von Eigeninitiati-
ve, wechselseitiger Hilfe und solidarischem Handeln
e.V. in der Bräuhausstraße 2 in der Altstadt.6

Dezember: Utopien und Illusionen werden angezweifelt, Privates rückt in den Vordergrund, nüch-
terne Blicke auf betonförmigen Zustände werden geworfen: No future!7

(zuletzt geändert am 25.12.2020)


1 Siehe „Punker – Zukunftsganoven“ von K.A. Kessler.

2 Siehe „Dann habe ich begonnen, Fotos zu machen …“ von Rainald Goetz.

3 Siehe „Jetzt oder Nie! Revolution“ und „Revolution on Stage“.

4 die tageszeitung vom 24. März 1982, 10.

5 Siehe „Eine Streitschrift für einen Rückschritt zum Fortschritt“ von W. Olles.

6 Vgl. Anstiftung 1988/89, München 1989.

7 Siehe „Eine Vorgeschichte oder Es geht voran“.