Flusslandschaft 1988
Bürgerrechte
Am 3. Februar stellt der ehemalige Kreisverwaltungsreferent und jetzige Innenstaatssekretär Peter Gauweiler eine Sondereinheit der Polizei vor, das Unterstützungskommando (USK). Ministerialdi-
rigent Hermann Häring erläutert die Einsatzphilosophie: „Vom statischen Modell weg hin zum of-
fensiven aggressiven Vorgehen." Bereits die Vorstellung der Sondereinheit auf dem BGS-Flugplatz in Oberschleißheim verdeutlicht dies. Am Tag darauf vermerkt die Münchner Abendzeitung: „Sie zeigen, was ihnen beigebracht wurde: der Boxhieb gegen die Kehle, der Stoß in die Weichteile, der Stiefeltritt ins Gesicht." Schon bald wird den nahkampfgeschulten Beamten vorgeworfen, sie gin-
gen unverhältnismäßig und überaus brutal gegen DemonstrantInnen vor.1
Gauweiler fährt einen harten Kurs. Eine Veranstaltung der Antiatom-Bewegung mit dem Titel „Tour de Terror – Versammlungsfreiheit und Widerstandsperspektiven“ wird am 9. März verbo-
ten, der bisherige Höhepunkt in einer Kette von Versammlungsverboten, die im November 1986 beginnt.2 Für Donnerstag, 6. Mai, ist eine Veranstaltung über den Widerstand in Kurdistan ge-
plant. Die Veranstaltung soll ebenfalls verboten werden. (Siehe „Internationales“.) – Für den 10. Mai ist eine Lesung und Diskussion über „Die Linke und der Staat“ mit Oliver Tolmein, Detlev z. Winkel und Jutta Ditfurth im Wirtshaus im Schlachthof in der Zenettistraße 9 geplant. – Am Donnerstag, 7. Juli, soll eine Großveranstaltung in der Ludwig-Maximilians-Universität am Ge-
schwister-Scholl-Platz 1 stattfinden. Es laufen Verbotsanträge. (Siehe auch „Frauen“.)
3
Am Freitag, 8. Juli, fordert das Anti-Strauß-Komitee im Schwabinger Bräu, Leopoldstraße 82, unter dem Motto „Warum fürchten sie so sehr das offene Wort?“ Versammlungsfreiheit und will anschließend zum Innenministerium demonstrieren. Das Innenministerium fordert eine Bannmei-
le um sein Haus. Das Münchner Kreisverwaltungsreferat wehrt sich erfolgreich und setzt sich mit der Genehmigung der Veranstaltung durch.4
Zwei Positionen stehen sich zur Zeit gegenüber, die beide allerdings dasselbe wollen: Ruhe und Ordnung. Die eine Position setzt auf Konfliktunterdrückung, die andere auf dialogische Konflikt-
bearbeitung. In den folgenden Tagen fliegen zwischen dem Innenministerium und dem Kreis-
verwaltungsreferat die Fetzen.5 Als Abgesandter des Innenministeriums spricht am 12. Juli im Münchner Stadtrat Ministerialrat Dr. Schwindel6: „… Im Zusammenhang damit muss ich darauf hinweisen, in vollem Respekt gegenüber allen vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Polizei-
präsidenten, dass der Vollzug des Versammlungsrechts als Staatsaufgabe für das ganze Land mög-
lichst einheitlich von der Zentralbehörde gesteuert werden muss. Da kann es – mit allem Respekt gesagt – eine Münchner Linie genauso wenig geben wie eine Ingolstädter, eine Augsburger oder eine Nürnberger Linie.“ Hier unterbricht Oberbürgermeister Kronawitter wütend: „Es gibt die Münchner Linie und es wird sie auch weiterhin geben. Eine Zentralsteuerung brauchen wir nicht.“7
Am Mittwoch, 13. Juli, findet eine Folgeveranstaltung der „Tour de Terror“ statt, die Veranstaltung „Münchner Freiheit – Widerstand in der Höhle des Löwen …“ im Wirtshaus im Schlachthof. Ein breites Bündnis hat dazu eingeladen. Im Unterstützeraufruf heißt es: „Die Veranstaltung Münch-
ner Freiheit muss stattfinden. Es kann nicht angehen, dass über Versammlungsverbote nicht mehr berichtet, über Widerstandsperspektiven nicht mehr diskutiert werden darf. Wenn wir auch nicht mit jedem einzelnem Beitrag dieser Veranstaltung einverstanden sein werden, wissen wir doch: Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Ohne Diskussion gibt es keine verwirklichte Demokratie. Wir unterstützen die Bemühungen des Anti-Atom-Plenums um Durchführung einer Veranstaltung zu den Themen Versammlungsfreiheit und Widerstandsperspektiven. Damit uns bei den Worten Münchner Freiheit mehr einfällt als ein hässlicher Verkehrsknotenpunkt mitten in Schwabing!“8 Etwa fünfhundert Menschen besuchen die Veranstaltung. Das USK umstellt das Gasthaus. Uniformierte und nicht uniformierte Beamte verlangen ihre Anwesenheit im Gebäude und fordern, die Veranstaltung mit einem Tonbandgerät aufzeichnen zu können. Sie kündigen an, „gegen strafbare Äußerungen oder Handlungen“ einschreiten zu wollen. An einem Tisch sitzen sieben Zivis und schneiden mit einem Tonbandgerät die Veranstaltung mit.9
Rechtsgüter sind keine absoluten Größen. Recht unterliegt immer Veränderungen. Was gestern verboten war, kann heute erlaubt sein. Und umgekehrt.10
Bis jetzt konnten seit eineinhalb Jahren sechs Versammlungen in geschlossenen Räumen, die weder anmeldungs- noch genehmigungspflichtig sind, in München nicht stattfinden. Wirte be-
klagen sich, dass sie von der Polizei unter Androhung von Konsequenzen zu Kündigung von Verträgen über angemietete Räume genötigt worden sind. Fast alle Medien und damit auch die öffentliche Meinung schwenkt zugunsten der von Verboten bedrohten Versammlungen der Lin-
ken.11
„Anschlag auf die Freiheit. Notfalls arbeitet man in Bayern gegen das Gesetz, viel lieber aber noch mit einem neuen passenden. Als Mitte September die Fahrer von 24 Sattelschleppern des öster-
reichischen Spediteurs Gerhard Stadler auf einem bayerischen Rastplatz streikten, weil sie zu Arbeitszeiten von bis zu 400 Stunden im Monat und zur Fälschung der Fahrtenschreiber genötigt wurden, zwang sie die Polizei zur Weiterfahrt. Das verstieß gegen das Verkehrsgesetz – die Fahrer hatten Selbstanzeige erstattet. – Die Polizei half aber dem Unternehmer. Mit dem geänderten Polizeiaufgabengesetz, das die CSU jetzt im Landtag durchpeitschen will, wird allen Unterneh-
mern, die sich vor Streiks fürchten, ganz legal geholfen. Vierzehn Tage kann danach in ‚Unterbin-
dungsgewahrsam’ genommen werden, wer Flugblätter und Transparente mit sich führt, die nach Meinung der Polizei zu ‚rechtswidrigen’ Aktionen aufrufen. Ebenso alle, bei denen ‚Waffen, Werkzeuge oder sonstige Gegenstände aufgefunden’ werden. – Als Waffe galt bisher schon bei Großdemonstrationen ein Reservekanister oder ein Wagenheber im Kofferraum. Die Arbeiter von Rheinhausen kämen – so Wolfgang Helbig, der für die Richter und Staatsanwälte in der ÖTV spricht – aus dem Gefängnis kaum mehr heraus. Jeder, der Aktionen wie Betriebsbesetzungen oder Brückenblockaden befürwortet oder entsprechende Flugblätter mit sich führt, kann ohne Gerichtsurteil vierzehn Tage in den ‚Unterbindungsgewahrsam’ – die Nazis sagten dazu ‚Schutz-
haft’ – wandern. ÖTV, SPD, Grüne, Humanistische Union und die Landesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizisten haben sich zu einem Aktionsbündnis gegen den CSU-Anschlag auf die Freiheit zusammengeschlossen.“12
„Freiheitsrechte im Polizeigriff – Aktionsgemeinschaft gegen Verschärfung des Polizeiaufgaben-
gesetzes in Bayern – ‚Die Freiheit stirbt nicht nur zentimeter-, sondern meterweise.’ – Beweis für diese düstere Prognose ist nach Ansicht einer Aktionsgemeinschaft die von der bayerischen Staatsregierung angestrebte Verlängerung der polizeilichen Vorbeugehaft, des sogenannten ‚Unterbindungsgewahrsams’, von zwei auf vierzehn Tage. Um die Öffentlichkeit auf diese ‚Gefähr-
dung der Freiheitsrechte’ aufmerksam zu machen, haben sich SPD, die GRÜNEN und ‚alle Kräfte links von der CSU’ zu einem außerparlamentarischen Aktionsbündnis vereint; dabei sind auch VertreterInnen der ÖTV, der ASJ, der Humanistischen Union und der Kritischen Polizisten in Bayern. – Sie alle halten die Gesetzesnovelle für den Höhepunkt einer Entwicklung in Bayern, die gekennzeichnet sei von einer ständigen Einschränkung demokratischer Grundrechte durch die CSU-Regierung. Auf einer Pressekonferenz in München warnten die Mitglieder der Aktionsge-
meinschaft davor, dass die geplante Gesetzesänderung den Weg zu einer ‚Sippen und Gesinnungs-
haft’ freimache. – Bisher kann die Polizei eine Person bis zu zwei Tage in Gewahrsam nehmen, ‚wenn das unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung zu verhindern’. So steht es
im Artikel 16 des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG). Diese Bestimmung soll nach dem Willen der CSU um Regelbeispiele erweitert werden. Demnach kann ein Polizist künftig anneh-
men, dass eine Person eine Straftat begehen will, wenn ‚sie dies angekündigt oder dazu aufgefor-
dert hat oder Transparente, Flugblätter oder sonstige Gegenstände mit einer solchen Aufforderung mit sich führt’. Waffen oder Werkzeuge, die ‚erfahrungsgemäß’ für eine Straftat verwendet werden, sind dann auch Grund für den Gewahrsam, wenn sie nur bei einer Begleitperson gefunden werden. Auch wer bereits als ‚Störer’ bekannt ist, könnte als Wiederholungstäter vorsorglich in Haft ge-
nommen werden.“14
Vom 2. bis 8. November veranstaltet die Freie Internationale Universität ein Symposion unter dem Motto „Die Ursachen liegen in der Luft“. Dabei ist auch der von Joseph Beuys 1987 initiierte „Bus für direkte Demokratie in Deutschland“, der das Recht auf Volksabstimmung fordert. Am 7. November fährt der Bus in der Gedenkdemonstration zur Erinnerung an die Münchner Revolution 1918 mit.15 (Siehe „Gedenken“.)
„8. November: Vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht beginnt ein Verfahren gegen eine 23jährige Frau und einen 27jährigen Mann, denen vorgeworfen wird, sie hätten die terroristische Organisation Rote-Armee-Fraktion (RAF) unterstützt. Sie waren im November 1986 Mitveranstal-
ter einer Versammlung in der Gaststätte ‚Zunfthaus’ in der Thalkirchner Straße 76, auf der über die Situation der wegen Mordes und anderer Straftaten verurteilten RAF-Mitglieder in verschiedenen deutschen Gefängnissen informiert werden wollte. Die Veranstaltung war seinerzeit vom Kreisver-
waltungsreferat verboten, das Verbot den Veranstaltern aber erst kurz nach Beginn der Versamm-
lung mitgeteilt worden. Alle Teilnehmer wurden anschließend von der Polizei durchsucht und mussten ihre Personalien angeben. Die Angeklagte hatte den Saal im ‚Zunfthaus’ gemietet, sich am Aufbau eines Informationsstandes beteiligt und die Versammlung eröffnet, der Angeklagte hatte im Saal ein Transparent angebracht mit dem Text: ‚Freilassung von Günter Sonnenberg – Zusam-
menlegung der Gefangene aus RAF und Widerstand – mit unseren Genossen in den Hochsicher-
heitstrakten kämpfen wir gegen das Nato-Europa für Befreiung’. Anträge der Verteidiger auf Ein-
stellung des Verfahrens, weil die Anklageschrift nicht ausreiche, um den Angeklagten deutlich zu machen. worin ihr strafbares Verhalten liegen solle, werden abgelehnt. Im Anschluss ziehen etwa 40 Zuschauer gemeinsam durch die Schleißheimer Straße zum Diskutieren und Mittagessen in das Café Normal in der Kreittmayrstraße 15. Dort werden sie und die anderen Gäste des Lokals einer polizeilichen Personalfestsetzung (sic!) unterzogen. Die Polizei begründet ihr Vorgehen mit einer nichtangemeldeten Demonstration. Die Gruppe wurde auf ihrem Marsch durch die Schleißheimer Straße von Polizeibeamten und Einsatzwagen begleitet.“16
17
Am 14. November findet eine Veranstaltung zum 129a-Prozess in der Manege, Steinseestraße 2 in Ramersdorf/Berg am Laim mit Pieter Bakker-Schutt, C. Binswanger u.a. statt.
„22. Dezember: Mit einer Demonstration auf dem Elisabethmarkt versuchen Rechtsanwälte der ‚Initiative bayerischer Strafverteidiger’ die Öffentlichkeit gegen die geplante Einführung des so genannten ‚Unterbindungsgewahrsams’ zu mobilisieren. Die bayerische Regierung möchte das Polizeiaufgabengesetz so ändern, dass künftig bis zu 14 Tage lang in Haft genommen werden kann, wer ‚vermutlich’ eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begehen will. Die Anwälte treten in ihren schwarzen Roben auf und führen Plakate mit sich.“18
19
Demonstration vor dem Imbiss Salatschüssel auf dem Elisabethmarkt
Siehe auch „Internationales“.
(zuletzt geändert am 10.1.2021)
1 Siehe „Bayern weist …“ von Martin Winter; vgl. Michael Sturm: „‚Die Räumung ging flott und zügig vonstatten’ – Eine kleine Geschichte der Polizeibewaffnung“ in: Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 106 f.
2 Siehe „Tour de Terror verboten!“; vgl. freiraum — Anarchistische Zeitung 21 vom Frühling 1988, 34 ff. und „’Tour de Terror’. Veranstaltungsverbote in Bayern“ in Archiv Reader 2 vom Mai/Juni 1988, 52 ff.
3 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
4 Vgl. Abendzeitung, Süddeutsche Zeitung, tz und Münchner Merkur vom 8., 9. und 10. Juli 1988; siehe „Meinungsfreiheit und Zensur in Bayern“.
5 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 14. Juli 1988.
6 Innenstaatssekretär Gauweiler hat sich entschuldigen lassen.
7 Stadtratsvollversammlung am 12. Juli 1988, 185, Bestand Bürgermeister und Rat, Münchner Stadtarchiv.
8 Dokumentation „Münchner Freiheit“, Juli 1988, 45; siehe „Aufruf für eine Veranstaltung ‚Münchner Freiheit’“.
9 Siehe „Umgang mit der Repression“.
10 Siehe „Bayerisches Recht im Inneren Notstand“ von Wolfgang Johann.
11 Siehe „Versuch einer Einschätzung der Projekte Tour de Terror und Münchner Freiheit“.
12 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 23 vom 11. November 1988, 6.
13 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
14 Süddeutsche Zeitung vom 26. Oktober 1988
15 Vgl. Hannelore Kunz-Ott/Andrea Kluge (Hg.), 150 Jahre Feldherrnhalle. Lebensraum einer Großstadt, München 1994, 111 f.
16 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 159, 1; siehe „Polizei überfällt ‚Cafe Normal’“.
17 Plakatsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
18 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 298, 1, 10; Stadtarchiv, Fotosammlung, Zentralbestand Ereignisfotografie-Politik.
18 Archiv der Münchner Arbeiterbewegung