Flusslandschaft 1989

Bürgerrechte

Der Verfassungsschutz (VS) lässt nicht locker und spricht einen Auszubildenden der Firma Sie-
mens
an.1

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„12. März: Die Initiative Bayrischer Strafverteidiger führt hinter dem Rathaus ein Stück ‚Inge-
wahrsam in vier Akten’ auf. Die Rechtsanwälte protestieren damit gegen den Plan der Staatsregie-
rung, der Polizei das Recht zu geben, Menschen rein vorsorglich bis zu zwei Wochen einzusper-
ren.“3

Beim Papstbesuch 1987 wurde Hannelore Mabry in „Unterbindungsgewahrsam“ genommen. Die-
ser konnte damals bis zu 48 Stunden dauern. Mabry prozessiert.4 Am 14. März diskutiert der bay-
rische Landtag über die Neufassung der Vorschriften über den Unterbindungsgewahrsam. Mabry entfaltet auf der Zuschauertribüne ein Transparent mit der Aufschrift „Recht wird beerdigt“ und wirft Flugblätter ins Plenum, auf denen sie gegen ihre Behandlung durch die Polizei beim Papstbe-
such protestiert. Saaldiener greifen zu und entfernen die Feministin recht handgreiflich.

14. März: „Gegen heftigen Protest von SPD und Grünen schafft die CSU die gesetzliche Grundlage für einen bis zu 14 Tagen dauernden polizeilichen Unterbindungsgewahrsam. – Bisher war polizei-
licher Gewahrsam nur bis zu 48 Stunden möglich. Über den Unterbindungsgewahrsam, der im Polizeiaufgabengesetz verankert wird, muss ein Richter entscheiden. Innenminister Edmund Stoiber sagt im Landtagsplenum: ‚Es gilt, Gewalttäter und Personen, die zu Straftaten öffentlich aufrufen, wirksam am offenkundigen Missbrauch der Grundrechte auf Versammlungsfreiheit und der freien Meinungsäußerung zu hindern.’ Dabei sei es gleichgültig, ob Gewalt am Rande einer politischen Auseinandersetzung oder von angetrunkenen Fußballfans ausgeübt werde. Auch in einem freiheitlichen Rechtsstaat dürfe die Polizei nicht durch die falsch verstandene Liberalität zum Gespött der Gewalttäter und ihrer Sympathisanten werden. Es sei für die Polizei unzumutbar, betont der Innenminister, Gewalttäter mit hohem Risiko für Gesundheit und Leben aus einer feindlichen Menge herauszuholen, um sie dann wenige Stunden später aus rechtlichen Gründen zu neuen Aktionen wieder entlassen zu müssen. Verteidiger von Bürgerrechten dagegen sehen im neuen Gesetz Verfassungsgrundsätze verletzt.4 – Klaus Warnecke (SPD) spricht von einem ‚De-
monstrations-Sonderpolizeirecht’ und einer ‚Lex Wackersdorf’, womit er den Schauplatz zahlrei-
cher Demonstrationen gegen die Wiederaufarbeitungsanlage meint. Es sei ein Verstoß gegen die Verhältnismäßigkeit, wegen des Verdachts einer Ordnungswidrigkeit, die mit Geldbuße bedroht sei, mit bis zu 14 Tagen Haft bestraft zu werden. Hartmut Bäumer (Grüne) wirft der CSU vor, mit der ‚Methode der Kriminalisierung’ die Bürger vom Gebrauch ihrer Grundrechte abschrecken zu wollen. Unterbindungsgewahrsam und Polizeihaft werde nun gegenüber allem angedroht, was nach ‚Widerstand, Aufmüpfigkeit und lebendiger Opposition’ aussehe. Klagen der Sozialdemokra-
ten und der Grünen gegen die Änderung des Polizeiaufgabengesetzes werden vom Bayrischen Verfassungsgerichtshof Anfang August 1990 als unbegründet abgewiesen. Voraussetzung für die Entscheidung, Verdächtige vorbeugend in Gewahrsam zu nehmen, sei allerdings die in jedem Einzelfall notwendige Feststellung, ‚dass eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit unmittelbar bevorsteht’. Mit vagen Verdachtsgründen lasse sich der Gewahrsam nicht rechtfertigen. Vier Jugendliche, die bei einer Demonstration vor dem Kern-
kraftwerk Gundremmingen vorübergehend in Vorbeugehaft genommen wurden, reichen daraufhin Klage beim Bundesverfassungsgericht ein.

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Am 18. Juli 1990 ändert der Landtag erneut – wiederum gegen die Stimmen der Opposition – das Polizeiaufgabengesetz. Es geht dabei um eine gesetzliche Grundlage für das Erheben, Speichern, Übermitteln und Abgleichen von personenbezogenen Daten, die bei der polizeilichen Tätigkeit anfallen, wie sie das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts erfordert. Die Gesetzesänderung diene auch dem Kampf gegen die organisierte und grenzüberschreitende Kriminalität, sagt Innenminister Edmund Stoiber, während SPD und Grüne befürchten, dass Daten unbescholtener Bürger erhoben werden könnten.“6

Kommunale Behörden und staatliche Institutionen stehen zuweilen im Widerspruch zueinander. Dieser Gegensatz kann bei der Verteidigung der Versammlungsfreiheit hilfreich sein. Oder?7

Seit dem letzten Jahr wird geplant, einen neuen Paragraphen ins Strafgesetzbuch einzuführen. Der § 130b StGB stellt die Befürwortung von Straftaten unter Strafe, wobei es sich um eine erheblich verschärfte Neufassung des von 1976 bis 1981 geltenden § 88a, der wegen Wirkungslosigkeit und rechtsstaatlicher Bedenken wieder abgeschafft wurde. Bestraft wird das Befürworten von Gewalt-
taten mit dem Ziel, die Förderung oder Weckung von Gewaltbereitschaft anderer zu verhindern sowie das Äußern von Sympathie oder auch nur Verständnis für eine Straftat. Dabei reicht auch die Verbreitung „neutraler“ Schriften (revolutionäre Klassiker), wenn sich aus dem „Gesamtzusam-
menhang“ die schlechte Absicht des Täters oder der Täterin ergibt. Auch hier wird nicht etwa eine Rechtsgutsverletzung mit Strafe bedroht, sondern eine Gesinnung. Letztendlich bleibt den Mit-
menschen nur noch staats- und regierungsfreundliches Verhalten. Es geht bei dem neuen Paragra-
phen nicht um Kriminalitätsbekämpfung, sondern vielmehr um Einschüchterung, denn mit einem solchen Paragraphen lassen sich Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchungen und Beschlagnah-
men rechtfertigen, auch wenn am Ende keine gerichtliche Verurteilung steht. Ebenso wie beim neuen § 130a StGB eignet sich diese Vorschrift zur massiven Kriminalisierung von Presse, Buch-
handlungen und Verlagen sowie von Rednern öffentlicher Veranstaltungen und Flugblattschreibe-
rinnen. Dies veranlasst die Buchhandlung Kaiser am Marienplatz im Mai, ein Schaufenster zu ge-
stalten, das gegen den Paragraphen protestiert. Auf Tafeln steht groß „Zensur“ und über Texten, die als Beispiele für politische Zensur dienen, wickelt sich Stacheldraht.

„Berufsverbot in Bayern – Die 27jährige Christine Andert, geborene Schanderl, darf trotz Prädikat-
examens in Bayern nicht Richterin werden. Wegen einer ‚Stoppt-Strauß’-Plakette am Pulli war sie vor neun Jahren von einem Regensburger Gymnasium geflogen. Ein Unrechtsakt, wie höchstrich-
terlich festgestellt. Doch die für Christine sämtlich positiven Gerichtsurteile fehlen in dem Dossier, das Bayerns Verfassungsschützer klammheimlich über die junge Frau anlegten. Von dem lücken-
haften Schnüffelakt erfuhr Christine erst im Frühjahr 1989, als sie nach glanzvoll bestandenem Juraexamen beim Oberlandesgericht Nürnberg ihre Referendarzeit machen wollte: Wegen ‚Zweifel an der Verfassungstreue’ wurde ihr die für Referendare übliche Verbeamtung auf Widerruf verwei-
gert. Was einem Berufsverbot für eine künftige Richterlautbahn gleichkommt. Christine, die sowie-
so lieber Rechtsanwältin werden möchte, wollte die Angelegenheit zunächst auf sich beruhen las-
sen. Dann jedoch erfuhr sie, dass im OLG-Bezirk Nürnberg ein Richter völlig unbeanstandet für die Schönhuber-Partei die Werbetrommel rühren darf. Nun tritt sie erneut dafür ein, dass das Rechtsverständnis der Obrigkeit in Bayern korrigiert wird: Das Verwaltungsgericht Ansbach wird demnächst entscheiden müssen, ob die junge Frau mit dem aufrechten Gang auch in Bayern als vollwertige Juristin gelten darf.“8

Siehe auch „Atomkraft“ und „Militanz“.

(zuletzt geändert am 11.1.2021)


1 Siehe „… sonst gehe ich zu Deinem Chef“ von Hannelore Messow.

2 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

3 Stadtchronik, Stadtarchiv München

4 Siehe „Geheimprozesse“ von Marc Fritzler.

5 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

6 Siehe „Unterbindungsgewahrsam – Verschärfte Vorbeugehaft auf bayrische Art“ von Rolf Gössner sowie Peter Jakob Kock, Der Bayerische Landtag. Eine Chronik, Bamberg 1991, 304 f.; siehe dazu auch „Wegen Werkzeug weggesperrt“ von Karl Stankiewitz.

7 Siehe „Erfolge im Kampf um Versammlungsfreiheit?“.

8 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 24 vom 1. Dezember 1989, 6.