Flusslandschaft 2023
Internationales
– Israel/Palästina
– Afghanistan
– Ukraine/Russland
– Türkei/Nordsyrien
– Iran
ISRAEL/PALÄSTINA
Unabhängige Menschenrechtsorganisationen wie die israelische B`Tselem führen in ihren Statisti-
ken insgesamt 10.219 hauptsächlich von den israelischen Besatzungskräften (Armee, Polizei), aber auch von rechtsextremen Zivilisten ab 1967 getötete Palästinenser auf (update vom 31.12.22). Da-
von wurden rund 7.500 im Gazastreifen, rund 2.500 im Westjordanland und 122 in Israel selbst getötet. In diesen Zahlen enthalten sind sowohl die Opfer von militärischen Großangriffen, der Niederschlagung von Aufstandsbewegungen (Intifadas) und großen Protesten wie im Jahr 2019 am Gaza-Grenzstreifen (Scharfschützen töteten 214 Palästinenser, darunter 46 Kinder sowie Kranken-
pfleger, Journalisten, Rollstuhlfahrer und verstümmelten zahlreiche weitere), aber auch Opfer der alltäglichen Unterdrückung der Palästinenser. Allein im vergangenen Jahr wurden mindestens 231 PalästinenserInnen getötet oder verstarben in Gefängnissen.
2022 war das seit 2005 tödlichste Jahr für die Palästinenser im besetzten Westjordanland und in Ost-Jerusalem mit Schwerpunkten in den Regionen Nablus und Jenin, wo der Widerstand erneut gewachsen ist, den die Besatzungsmacht mit allen Mittel zu unterdrücken sucht. Man könnte sa-
gen, die 1948 begonnene Nakba (Vertreibung der Palästinenser und Gewalt gegen Palästinenser) setzt sich bis heute fort. Eine komplette Liste der Getöteten im Jahr 2022, Angaben zu ihrer Person und weitere wichtige Einzelheiten werden zum Jahreswechsel u.a. von der US-Internetzeitung Mondoweiss veröffentlicht. Doch auch zum Jahresanfang setzt sich die harte Unterdrückung fort. Neun Palästinenser werden getötet, darunter vier Zivilisten und zwei Kinder. Allein am 12. Januar tötet die Besatzungsarmee zwei Palästinenser und verwundete drei weitere, darunter ein Kind. Das alles ist der deutschen Presse kein Wort wert.
Am 8. Februar stirbt in Ramallah der Hydrogeologe Clemens Messerschmid. Nirit Sommerfeld widmet ihm einen ergreifenden Nachruf: https://www.juedische-stimme.de/nachruf-auf-clemens-messerschmid
AFGHANISTAN
Seit die Taliban im August 2021 die Macht übernommen haben, stehen afghanische Frauen an vor-
derster Front des Widerstands gegen die Unterdrückung durch die Taliban. Sie organisieren fried-
liche Proteste für Gleichheit, Rechte, Gerechtigkeit und Frieden. Die Solidaritätskundgebung für afghanische Frauen und Mädchen (Global Movement für Women`s Rights in Afghanistan), die vom Städtebund Münchner Frauenverbände organisiert wird, beginnt am Samstag, 14. Januar, um 10 Uhr auf dem Gärtnerplatz. Der Demonstrationszug zieht dann zum Marienplatz. Parallel finden in 20 Staaten und 40 Städten Veranstaltungen statt.1
UKRAINE/RUSSLAND
»„Die Ukraine bittet um Kampfflugzeuge“ – als ich diese Überschrift las war meine erste Reaktion: Geht’s eigentlich noch?? Eine Eskalation jagt die nächste. Kaum sind Kampfpanzer zugesagt, kommt die nächste Forderung. Wenn wir die Aussage von Annalena Baerbock dazu denken: „… Wir kämpfen einen Krieg gegen Rußland“ muss man sagen: nur zu. Der 3. Weltkrieg ist bereits am Laufen. Bundeskanzler Scholz verlangt von uns: „Vertrauen Sie der Regierung – vertrauen Sie mir“. Da kann ich nur sagen: Nein Herr Scholz, dieser Regierung kann ich nicht vertrauen. Erst wird die Lieferung von Kampfpanzern verweigert, und dann doch geliefert. Jetzt heißt es, dass Deutschland keine Kampfflugzeuge liefern werde. Wie lange dauert es, bis wir sie doch liefern? Und Piloten, und dann Bodentruppen? Für die USA ist das alles kein Problem. Der Krieg ist wie immer weit weg von dort. Aber für uns wird es immer brenzliger. Immer noch mehr Waffen und immer noch größere Waffensysteme lösen das Problem nicht. Dringend notwendig ist jetzt vor allem, dass alle Anstrengungen unternommen werden, schnellstmöglich den Krieg zu beenden. Da-
für gibt es diverse Vorschläge. Irgendwann muss sowieso verhandelt werden. Warum also nicht jetzt?«2
Das andere Bayern e.V. schreibt am 21. Februar: „Die Waffen nieder! Feuilletonisten werden schreiben: ‚…schön, dass es sie gab, die Suttner, den Remarque, den Borchert‘. Oder ‚Menschen wie den Kurt Eisner….‘. Aber heute, in die Wendezeit, da passt das nicht mehr so recht. Pazifismus geht nur noch bewaffnet. Pazifistische Waffen, die Frieden schaffen. Der wahre Pazifist sitzt heute im Leopard. Und überhaupt, die haben ja angefangen. Vorher war doch alles friedlich und schied-
lich. Zumindest vor der Haustüre. Meistens wenigstens. Und die Pazifistin für Kriegsdiplomatie wusste schon, was auf sie zukommt. Sie trug Kriegsmode, bevor er überhaupt richtig los ging. Bra-
vo! schreit die atlantische Brückenpresse, sowas stottert unbedarft sein Credo, gelernt in Engel-
land. Der, die, das Pazifist weiß heute endlich, was gut und böse ist. Das goldene Kalb im Westen und der blutige Bär im Osten, hie Glückskind, da Oligarch und hinter den sieben Bergen die Chine-
sen. Das geht nicht gut, das musste ja krachen. Nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen denen und uns. Nichts geht gut, auch links nicht und grün schon gleich gar nicht. Die Melnykisie-
rung kennt keine Parteien mehr, nur noch Brandherde, die mit Treibstoff gelöscht werden wollen. Keine Angst, sowas überschreitet keine Grenzen und dem Merz ist vor Atomarem nicht bange. Eigentlich ein Manöver in Echt. Und jeder kann mitreden bis hinein in die letzte Schraube des ab-
wehrerprobten Patrioten. Die Waffen nieder? Das ist Kriegshetze, der Spruch der fünften Kolonne Putins. Erst wenn der vor ein Kriegstribunal gezerrt wird, das die friedfertigen Amis nie anerken-
nen wollten, wird verhandelt, wo gelöscht und wo aufs Neue gezündelt wird. Kurt Eisner, wir geste-
hen am Jahrestag Deiner Ermordung, es ist wieder einmal zum Kotzen. Aber es gibt sie schon noch, die sich an Dich erinnern und in die Zukunft mitnehmen, dann, wenn sie wieder abflaut, wenn es uns gelingt, sie einzudämmen, diese Welle der Panzerpazifisten. – Übrigens schreibt Heri-
bert Prantl in seiner Kolumne am 10. Februar 2023: ‚Das Wort Frieden und der Aufruf zu Ver-
handlungen ist aber keine Distanzierung von der Ukraine, sondern eine Distanzierung vom Krieg’.“3
Aktivisten aus dem Umfeld der Münchner Technoszene rufen für den Samstag, 18. Februar, ab 16 Uhr zum Demozug vom Harras an den Odeonsplatz, wo die Pro-Ukraine-Demo stattfindet. Laut Insidern werden 500 bis 1.000 Teilnehmer erwartet.
Gerade läuft im Radio Georg Kreislers „Meine Freiheit, deine Freiheit“ (https://www.youtube.com/watch?v=6zgKob2vr2E und https://www.youtube.com/watch?v=Qf5nyBplUhQ), als Werner Schmidt-Koska in der augenblicklichen Diskussion Stellung nimmt: „Frieden hat keine menschliche Alternative“.
TÜRKEI/NORDSYRIEN
Ein verheerendes Erdbeben erschüttert in der Nacht zum 6. Februar die süd-östlicheTürkei und Nordsyrien. Die Arbeiterpartei der Türkei (TIP) richtet ein Katastrophenkooordinierungszentrum ein und schreibt:
„In vielen Vierteln der Provinz Hatay, insbesondere in Defne und Samandağ, sowie in den Provin-
zen Kahramanmaraş, Gaziantep und Adıyaman, wurden die Menschen unter den harten Winter-
verhältnissen ihrem Schicksal überlassen.
• In diesen Gebieten stürzten viele Gebäude ein, alte und neue, die unter der AKP-Regierung über staatliche Ausschreibungen vergeben wurden, darunter öffentliche Einrichtungen wie Kranken-
häuser, Wohnheime, Hotels, kommunale Gebäude und solche des Katastrophenschutzes (AFAD). Die regierungsnahen Bauunternehmen sowie die Ministerien und Verwaltungen, die diese Aufträge an sie vergeben haben, sind verantwortlich für den Tod der Jugendlichen, der Kinder und der Pati-
enten. Wir fordern die strafrechtliche Verfolgung derjenigen, die den Tod und das Leid Tausender Bürger*innen verursacht haben.
• Gegen alle Proteste von Anwohnern, Expert*innen und Umweltaktivist*innen wurde der Flugha-
fen Hatay auf der Amik-Ebene gebaut und ist heute unbrauchbar. Da die Autobahnen und Viaduk-
te der Städte beschädigt sind, ist es nun unmöglich, Hatay zu erreichen, und Zehntausende Men-
schen können keine Hilfe erhalten.
• Institutionen wie die türkischen Streitkräfte und die AFAD sind in Notfällen zuständig für Suche und Rettung sowie die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Unter der AKP-Regierung wurden sie je-
doch systematisch geschwächt und ihre Mitarbeiter und ihr Personal reduziert, sodass sie bei Such- und Rettungseinsätzen nutzlos geworden sind. Außerdem durften viele spezialisierte, freiwil-
lige Such- und Rettungsgruppen nicht aktiv werden, weil sie die erforderliche Zertifizierung durch die Pro-AKP-Bürokratie nicht erhalten konnten.
• Nach dem massiven Erdbeben vom 17. August 1999 im Nordwesten der Türkei vor fast 25 Jahren wurden die landesweit erhobenen „Erdbebensteuern“ nicht für die Vorbereitung auf Erdbeben und die Gewährleistung der Sicherheit der Bürger*innen ausgegeben, sondern für Straßen und Brük-
ken, die die AKP gebaut hat, um politische Vorteile zu erzielen und regierungsfreundliche Auftrag-
nehmer zu bereichern.
• Unser Land wurde an den kältesten Tagen des Winters von zwei schweren Erdbeben heimge-
sucht. Eine effektive Suche und Rettung in der Erdbebenregion, insbesondere in Hatay, Kahra-
manmaraş und Adıyaman, ist praktisch unmöglich. Außerdem mangelt es an Nahrung und Wasser. Unsere Bürger*innen versuchen, ihre Verwandten aus den Trümmern zu retten, indem sie mit den Händen graben, während diejenigen, die überlebt haben, mit der Eiseskälte zu kämpfen haben.
• Unser Land stand nach beiden verheerenden Erdbeben stundenlang vor großen Problemen. Aber der Staat, die Regierungsinstitutionen, spezialisierte Expert*innen oder Transport- und Versor-
gungsmittel sind nirgends zu sehen.
Die Menschen unseres Landes haben es nicht verdient, in solch einer Verzweiflung sich selbst überlassen zu werden, noch verdient sie die Hartherzigkeit der Regierung. Wir werden dies nie vergessen und denen nie vergeben, die unser Volk diesem Schicksal überlassen haben. Wir haben mit aller Kraft mobilisiert, um unseren Mitbürger*innen beizustehen, die sich unter diesen harten Winterbedingungen selbst verteidigen müssen. Unser Volk wird seine Wunden durch Solidarität heilen. Unsere Mitbürger*innen werden niemals allein und hilflos sein.“4
IRAN
Der Tod von Jina Mahsa Amini am 16. September des vorigen Jahres hat eine Protestwelle ausge-
löst, die alle gesellschaftlichen Gruppen und alle Regionen des Landes erfasst hat. Die 22-Jährige war am 13. September wegen „unislamischer Kleidung“ von dersogenannten „Sittenpolizei“ festge-
nommen und brutal geschlagen worden. Sie fiel ins Koma und starb wenige Tage danach. Die „Si-
cherheitsbehörden“ gehen mit brutaler Gewalt gegen die Demonstrierenden vor – wie schon 2009, 2017/2018 und 202I. Nachgewiesen ist, dass 200 Menschen, darunter 44 Minderjährige und Kin-
der, bis zum Jahreswechsel ermordet worden sind. Die tatsächliche Zahl der Getöteten ist vermut-
lich deutlich höher. Seit Beginn der Proteste wurden zwischen 15.000 und 16.000 Menschen will-
kürlich festgenommen, viele von ihnen wurden verschleppt, in Isolationshaft gehalten, gefoltert und anderweitig misshandelt. Viele stehen in unfairen Verfahren vor Gericht. Mindestens 26 Men-
schen, so der Stand zum Jahreswechsel, droht akut die Hinrichtung. Die ersten Verfahren vor Re-
volutionsgerichten haben begonnen. Anklagen lauten auf „Verdorbenheit auf Erden“ oder „Feind-
schaft zu Gott“. Ziel ist es, weitere Demonstrierende einzuschüchtern und von Protesten abzuhal-
ten. „Frau, Leben, Freiheit“ – war anfangs der zentrale Slogan der Protestbewegung. Dabei geht es schon längst nicht mehr „nur“ um den gültigen Kopftuchzwang, sondern um die langjährige tief-
greifende Menschenrechtskrise im Land.
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18. Februar: Ab Samstagvormittag protestiert der oppositionelle Nationale Widerstandsrat Iran (NWRI). Der Iran ist eines der Hauptthemen der noch bis Sonntag dauernden Münchner Sicher-
heitskonferenz. Auch den ganzen Nachmittag befinden sich Kundgebungsteilnehmer auf dem Max-Josef-Platz. Ihre Forderungen:
o Die Gewalt gegen die Demonstrierenden muss aufhören. Ebenso die wahllosen Erschießungen und Verletzungen auf offener Straße und die massenhaften willkürlichen Festnahmen.
o Die iranischen Behörden müssen alle Todesurteile aufheben, von der Verhängung der Todesstra-
fe absehen und alle Anklagen gegen diejenigen fallen lassen, die im Zusammenhang mit ihrer friedlichen Teilnahme an den Protesten festgenommen wurden.
o Die Straflosigkeit der iranischen Behörden muss beendet werden. Sie ermöglicht weitere Massen-
tötungen und die exzessive Anwendung der Todesstrafe zur politischen Unterdrückung.
o Alle Länder mit Botschaften im lran sollten unverzüglich hochrangige Beobachterinnen und Beobachter zu allen laufenden Prozessen zu entsenden, bei denen den Angeklagten ein Todesurteil droht.
Veränderung ist jetzt möglich! Die Regierung Irans muss die Menschenrechte endlich anerkennen. Das zeigen lranerinnen und lraner mit ihren Protesten – unter Einsatz ihres Lebens. Sie hoffen auf die Unterstützung der Deutschen.6
1 Siehe die Fotos von der Kundgebung „frauen gegen taliban“ von Cornelia Blomeyer.
2 Leserbrief von Sonja Schmid, München, als Antwort auf »Kampfflugzeuge für die Ukraine« – SZ vom 27.1.2023, am 29. Januar zugeschickt
3 Siehe www.dasanderebayern.de.
4 Zuschrift vom 10. Februar 2023
5 Fotos: Jessica di Rovereto