Flusslandschaft 1978
Bürgerrechte
»Rechtsstaat / ist immer das / was ich bei Strafe / so nennen muss.«
Heinz Jacobi
Von Samstag bis Montag, 18. bis 20. Februar, flattern Tausende von Flugblättern von Kaufhäusern und Kirchtürmen, auch vom Alten Peter. Unter der Überschrift „Verdammt, es ist so kalt in diesem Land“ wird auf den am Montag beginnenden „Müllprozess“ gegen Margit Czenki, Jutta Fritton und Jonny von Rauch.1 Die ersten drei Prozesstage lassen Übles erwarten.2 Am Ende der Verhand-
lungswoche muss Margit 3.000 Mark zahlen, Jutta und Jonny werden freigesprochen.3
Am 13. April soll im Bundestag das neue Razziengesetz verabschiedet werden. Am 4. April wird es schon in die Tat umgesetzt.4
Am 25. Mai soll die Volkszählung beginnen. Bürgerinitiativen rufen zum Boykott auf. Proteste, Stö-
rungen und Sabotage sind schließlich der Grund, warum die Behörden die Aktion abblasen.
Das Blatt wird mit Strafanzeigen überzogen, aber es zeigt auch selber an.5
Dass in Münchner Polizeirevieren geprügelt wird, veröffentlicht Heinz Jacobi; daraufhin wird auch er verprügelt.6 Die Bahnpolizei schlägt ebenfalls kräftig zu.7 (Siehe auch „CSU“.) Andererseits ver-
sucht die Politik, mit sogenannten Kontaktbereichsbeamten freundliche Sozialprävention zu reali-
sieren. In der alternativen Szene begegnet man dem Kontaktbereichsbeamten mit Misstrauen.8
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Plakat: Peter Birrenbach
„Bayerisches Polizeigesetz greift Verfassungssubstanz an – Der Landesverband Bayern der Huma-
nistischen Union wendet sich gegen die uneingeschränkte Übernahme der umstrittenen Regelun-
gen des Musterentwurfs für ein einheitliches Polizeigesetz in das bayerische Polizeiaufgaben-Ge-
setz. In ihrer Stellungnahme zu dem z.Z. im Landtag behandelten Entwurf eines bayerischen Poli-
zeiaufgaben-Gesetzes bezeichnet die HU vor allem die neuen Polizeibefugnisse zum Todesschuss, zur Anwendung von Handgranaten und zur Identitätsfeststellung an Kontrollstellen als schwere, die Grenzen des Rechtsstaates überschreitende Eingriffe in die Grundrechte des Einzelnen. Mit dem kommandierbaren Todesschuss würde die Polizei eine von der Verfassung ausdrücklich ausgeschlossene Verfügung über das Leben einzelner Bürger erhalten. Der Wille des Schutzob-
jektes – der Geisel – wird zurückgestellt, obwohl ein Todesschuss für die Geisel immer riskant ist. Weil sie getroffen werden könnte oder der nicht tödlich getroffene Geiselnehmer die Geisel noch erschießen könnte, wird sie nicht mit einem Todesschuss einverstanden sein, wenn noch Hoffnung besteht, durch die Erfüllung der Forderungen des Geiselnehmers am Leben zu bleiben. Nach dem Gesetzentwurf sollen Maschinengewehr und Handgranaten ‘angriffsunfähig’ machen. Diese Ver-
harmlosung der Gefährlichkeit solch schwerer Waffen lenkt davon ab, dass die Tötungsgefahr – auch für Unbeteiligte – nicht mehr kalkulierbar ist. Schließlich sieht die HU in den stark erweiter-
ten Befugnissen zur Identitätsfeststellung Tendenzen zum Überwachungsstaat So könnte die Poli-
zei durch Personenkontrollen ‚an Orten, an denen Personen der Prostitution nachgehen’, in weiten Bereichen von München die Identität einer Vielzahl völlig unbescholtener Bürger feststellen. Da außerdem versäumt wurde, eine Datenschutz-Regelung in das Polizeigesetz einzubauen, muss man davon ausgehen, dass die an solchen Kontrollstellen ermittelten Daten in die Computer-Systeme der Polizei eingespeichert werden und über den Weg der Amtshilfe anderen Behörden, z.B. dem Verfassungsschutz, zugänglich gemacht werden. Da die Staatsorgane der Öffentlichkeit bis jetzt den Beweis schuldig geblieben sind, dass die Terrorüberfälle der vergangenen Jahre durch die er-
weiterten Befugnisse der Polizei hätten verhindert werden können, sieht die HU keine Notwen-
digkeit, sie in das bayerische Polizeiaufgaben-Gesetz zu übernehmen.“10
Bernhard Sandfort (11.3.1936 Köln – 21.4.2020 Mannheim) eröffnet 1977 in Mannheim das „Mu-
seum der Fragen“ im Augenladen. 1978 stellt er die Frage „Ist der Bürger in einer Demokratie vor seinem Gewissen verpflichtet, darauf zu achten, was seine gewählten Volksvertreter tun, um sich nötigenfalls fordernd oder protestierend zu Wort zu melden?“ und schickt sie mit der Bitte um Be-
antwortung an 55 Abgeordnete von Gemeinde, Land und Bund, an 55 Spitzenbeamte von Gemein-
de, Land und Bund und an 55 „ständige Begleiter des Augenladens“, darunter an den Verantwortli-
chen dieser Web-Seite. Nicht alle der Angeschriebene antworten, die meisten, die antworten, beto-
nen ein „Ja“ und begründen dies mehr oder weniger. Der Herausgeber dieser Web-Seite, der einzi-
ge Bayer unter lauter Norddeutschen, fällt hier aus dem Rahmen. Er schreibt (etwas langatmig, holprig und oberlehrerhaft): „Die Antwort ist: 1. Gewissen ist eine moralische Instanz, die das bis heute 4.000 Jahre dauernde Faustrecht legitimiert. In der Sklavenhaltergesellschaft sind die Skla-
ven absolutes Eigentum. Gewissen ist unnötig. Im Feudalismus sind die früheren Sklaven halbfrei und es entsteht eine neue Ideologie, die auf ein Paradies im Jenseits verweist. Da unmittelbarer Zwang nichts mehr nützt, muss der Zwang sich mittelbar auswirken: in den Köpfen eines jeden einzelnen. Der entstehende Kapitalismus erfordert dann eine weitere Änderung der Ideologie (= falsches Bewusstsein, das auf Apriori-Hypothesen aufbaut) hin zum Calvinismus und Protestantis-
mus. – Gewissen haben nur die Kleinen, die Unterprivilegierten (deshalb sind sie’s ja auch). Wer diesen Staat lenkt und damit auch unser Schicksal, entzieht sich unserem Blick. Parlamentarier sind’s zum wenigsten. Also ist es 2. auch nicht so wichtig, darauf zu achten, WAS ein solcher Volks-VERTRETER tut, es sei denn, man merkt mit der Zeit, dass unser Volksvertreter Politik VER-
KAUFT! Dass er dabei manchmal die Interessen der Bevölkerung wahrnehmen und berücksichti-
gen muss, ist nur ein für ihn notwendiges Übel. Damit wir uns nicht missverstehen: Unser Volks-
vertreter ist nicht schlecht (gut allerdings auch nicht; Gut und Böse sind wiederum nur zwar ge-
schichtlich gewachsene, aber gesetzte Apriori-Kategorien; in unserer WIRKLICHKEIT ist nur gut, was mir, dir, uns … nützt). Er funktioniert in einem verselbständigten System (richtig!! ähnlich wie eine Marionette), in einem System, das zwar die Menschen geschaffen haben, das sich aber jetzt gegen sie richtet. Deshalb meine ich 3., dass, solange sich der andere über mich und mein GEWIS-
SEN ins Fäustchen lacht, sich nichts ändert. Sollte ich mir aber ein BEWUSSTSEIN über die gesell-
schaftlichen Verhältnisse – jetzt wäre ich fast versucht gewesen, doch noch auf Karl Marx hinzu-
weisen – anschaffen, dann kann ich mir vorstellen, dass EINE Möglichkeit sicher auch die ist, ‚sich … fordernd und protestierend zu Wort zu melden‘. Im übrigen bin ich froh, dass ich durch diese Frage mir selbst einiges klar machen konnte.“11
Am 29. November sieht sich Henrich Rosenfeld das Haus Schwanthalerstraße 91 an und wundert sich, dass er daraufhin festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt wird.12
Am 12. Oktober demonstrieren Mitglieder der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) vor dem Kultusministerium gegen die herrschende „Schnüffelpraxis“.13
Heribert Prantl: „Die Anti-RAF-Gesetze von 1977 bis 1979 haben Wohnungsdurchsuchungen er-
leichtert, Kontrollstellen zur Personenidentifizierung eingeführt und die Beweisverfahren im Straf-
prozess vereinfacht. Die Zwangsmittel der Strafverfolgungsbehörden wurden ausgebaut – und zwar so, dass sie mehr und mehr auch völlig Unschuldige miteinbezogen. Der Zugriff auf Unbetei-
ligte wurde im Zuge dieser Ermittlungsmaßnahmen (Telefonüberwachung, Raster- und Schlepp-
netzfahndung, Observation) die Regel. Was als Quasi-Notstandsrecht zur Bekämpfung der RAF begonnen hatte, wurde nie mehr gründlich evaluiert und im Lauf der Zeit straf- und sicherheits-
rechtlicher Standard … Das ist die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte; das ist die Erfahrung, die man mit den Sicherheitsgesetzen der RAF-Zeit … gemacht hat. Diese Gesetze kamen ganz schnell, die Pakete wurden binnen weniger Tage und ohne große Beratungen gepackt, um so auf die neuen Gefahren zu reagieren. Die Minister und die Regierungen, die die Gesetze gefordert und durchgesetzt haben, traten ab und gingen – aber ihre Gesetze vergingen nicht mehr.“14
(zuletzt geändert am 15.3.2021)
1 Siehe „Sog. Bank-Lady“ und „Dagegen leben“ von Margit Czenki 1977. Vgl. „Müllprozess“ in: Blatt. Stadtzeitung für München 114 vom 10. Februar 1978, 5 ff.
2 Siehe „Müll-Impressionen“.
3 Siehe „Ihr ist eben alles zuzutrauen“ von Erika Schilling.
4 Siehe „Razzienwecker“.
6 Siehe „Betreff: Bullenprügel“ von Heinz Jacobi.
7 Siehe „Wie die Münchner Bahnpolizei BEFA 7 praktiziert“ von Peter Schult.
9 Künstlergemeinschaft Mühsam, Entwicklungen, München 1978, 136.
10 Mitteilungen der Humanistischen Union 84 vom September 1978, 24. Siehe dazu „das war knapp“.
11 Zit. in Bokult. Informationsblatt des Museums Bochum 10 vom Oktober 1978, 3.
12 Siehe „Presseerklärung“ von Henrich Rosenfeld.
13 Vgl. Süddeutsche Zeitung 236/1978.
14 Süddeutsche Zeitung vom 25./26. April 2020, 6.