Flusslandschaft 1978

Kunst/Kultur

Es geschieht äußerst selten, dass in Institutionen Menschen, die von Vorgesetzten abhängig sind, radikale Kritik üben. Peter Dienstbier rechnet mit dem Kulturreferat und dem Kulturreferenten ab.1

BILDENDE KÜNSTE

Heimrad Prem von der Gruppe SPUR ist gestorben. Vlado Kristl ist bei der Beerdigung.2

Am 10. Oktober veranstaltet der Kunstverein eine Podiumsdiskussion zum Thema „München. Schlusslicht der Kunstszene“, Höhepunkt in einer länger anhaltenden Kontroverse zwischen kon-
servativen und progressiven Ansichten in der Kulturpolitik.3

KARIKATUR

Gerhard Seyfried wird mit seinen Karikaturen im Blatt bekannt und stilbildend. Neben ihm finden sich aber in der Münchner Stadtzeitung auch weitere kritische Zeichner.4

KINO und FILM

Am 30. Januar zeigt das Cinema an der Nymphenburger Straße 31 „Punk in London“ von Wolf-
gang Büld.

Der Film-Comics „Ein sozialkritischer Liebesfilm“ wird zu einer ersten, nicht mehr existierenden Theaterproduktion mit dem Titel „Der Tiger von Äschnapur Zwei oder Ich bin das einzige Opfer eines Massenmordes“ gedreht. Gefilmt auf dem Lande wird der Film in der Kamera geschnitten und der Ton wird gleichzeitig aufgenommen. Tennisspielerinnen: Natascha Körte, Christine Feichtner. Mann: Alexeij Sagerer. Alles ist weiss. Unschuld. Mädchen. Duft und Tennis. Ein Film von Alexeij Sagerer.5

LITERATUR

Claus Peter Lieckfeld: „Zum 80. // Zu Augsburg, / hört man, / ließen die Väter der Stadt / zu Ehren des großen Sohnes der Stadt / Blumen legen vor ein Haus. // Da lagen sie nun, / und milder Neuschnee / deckte die Peinlichkeit zu. // Vor Brechts Geburtshaus lag nur Schnee. // 12.2.1978“6

Augsburg hat mit seinem größten Dichter Schwierigkeiten. Kommunistinnen und Kommunisten finden ihn hervorragend. Manche linksalternative Antiautoritäre ziehen die Stirn in Falten, wenn sie daran denken, wie Brecht einst machomäßig auftrat und seine Liebschaften ausbeutete. Und sie finden, dass der Dichter in Ost und West vor allem instrumentalisiert wird. Am 26. Februar findet im Haus International in der Elisabethstraße 87 eine Podiumsdiskussion statt.7

Das Münchner Literaturbüro (MLB), in dem Autoren ihre Texte zur Diskussion stellen, entsteht mit seinen Werkstattgesprächen im heutigen Haidhausen-Museum in der Kirchenstraße. Kay Ken Derrick gründet es als Verein im Juli 1984 in der Milchstraße 4 in Haidhausen.

MUSIK

Am 28. Februar spielt Ultravox im Downtown.

Am 12. April spielen Pack und The Wankers im Downtown.

„In München finden alljährlich das Singats statt – eine Woche der Liedermacher, organisiert und finanziert vom Kulturamt der Stadt. Kulturreferent Dr. Jürgen Kolbe, der alle Parteien glauben lässt, er unterstütze ihre Politik,könne es aber nicht öffentlich zeigen, bewies mal wieder, dass ihm das Herz auf dem rechten Fleck sitzt. Zwar hatte das Kulturamt das Frankfurter ,Sogenannte links-
radikale Blasorchester’ eingeladen, aber kurz darauf, die CSU hatte gerade die Rathauswahlen ge-
wonnen, wurde es wieder ausgeladen. Kolbe begründete diesen Schritt gegenüber seinem Assisten-
ten damit, dass ,der provokative Name der Gruppe auf einer städtischen Veranstaltung nicht trag-
bar’ sei. Kaum war die Sache publik, ließ Kolbe dementieren: Nicht der Name, sondern dass die Gruppe nicht aus Bayern stamme, sei entscheidend für die Ausladung gewesen. Das ,Blasorchester’ kam dennoch und unter dem Beifall der Zuschauer bequemte sich der Veranstalter, dem Orchester eine Viertelstunde Darbietung zu erlauben, mit Zugaben wurde dann eine halbe Stunde daraus. Die Münchner Presse lobte die ,schlampige Professionalität’ und den ,Witz’ (AZ) der Gruppe, der Baye-
rische Rundfunk zeichnete ihre Darbietung auf. Als dann die Sache im Bayerischen Fernsehen ge-
zeigt und die Hintergründe erläutert wurden, besaß Kolbe den ,Mut’, erklären zu lassen: ,Nicht der Name, sondern die Qualitätsgründe waren entscheidend für die Ausladung. Die Gruppe wird auch keine Gage für ihre Auftritt erhalten.‘ Zu Recht hatte Klaus Budzinski in der AZ festgestellt: ,Die Ausladung hatte rein künstlerische Ursachen. Sie wurde ausgesprochen von Leuten, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben.‘“8

THEATER

Am 8. Mai findet neben Produktionen der Roten Rübe, des Theatre du Soleil u.a. eine Aufführung von Achternbuschs „Ella“ beim Theater Festival statt. Vlado Kristl verbindet seine Inszenierung mit einer radikalen Kritik am Blatt.9

ZEITSCHRIFTEN

“S! A! U! Punk-Literatur-Fanzine herausgegeben von Eckhart Schmidt ab 1978. Autoren waren u.a. Rainer Werner Fassbinder, Wolf Wondratschek, Klaus Lemke, David Byrne, Ludwig Fels und Wer-
ner Schroeter und Herbert Achternbusch. Mit Achternbusch gab es eine Vereinbarung, dass das Magazin eingestellt werden würde, wenn dieser in der ‚Zeit’ zitiert werden würde. Was dann auch beides geschah. – Obwohl das Magazin auf der Punk-Welle mitschwamm, wurden auch viele ande-
re Bands und Musiker portraitiert, u.a. DEVO. Auch Franz Dobler und Karl Bruckmaier lasen da-
mals aufmerksam die S! A! U! – Franz Dobler in seinem Blog: ‚S! A! U! war Anfang 1980 eine um-
werfende Entdeckung für mich: ein von Punk und New Wave deutlich inspiriertes Literatur- und Filmmagazin. Texte, Briefe, Karten, Entwürfe von Achternbusch, Fels, Lemke, seitenweise von/ über Devo, Patty Smith, XTC etc. Herausgegeben von Eckhart Schmidt, ein Filmer aus der Münch-
ner Gruppe. Die Story ‚Der Fan’ wurde in S! A! U! gedruckt, dann als Film legendär; die junge Desi-
rée Nosbusch frisst ihren Star …’“10

(zuletzt geändert am 16.5.2021)


1 Siehe „Kulturpolitik als Schmierenkomödie“ von Peter Dienstbier.

2 Siehe „Zum Tode eines Malers“ von Vlado Kristl.

3 Siehe „Padua und Performance“ von Werner Marschall.

4 Siehe „volksstaat“.

5 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=hc5a3RzCJ0U.

6 Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft 1/1978, Köln, 50.

7 Siehe „Brecht-Debatte in München“ von Magnus Reitschuster.

8 Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft 3/1978, Köln, 64.

9 Siehe „Modernes Theater München: ‚Ella’ von Achternbusch in der Fassung von Vlado Kristl“.

10 www.sub-bavaria.de