Flusslandschaft 1980

Alternative Szene

Am 9. Januar spricht Murray Bookchin im Saal vom Wolfgangsheim am Wolfgangsplatz 9 in Haidhausen über Anarchismus und Ökologie.1

Krankheit ist ein Ergebnis einer kranken Gesellschaft. Herrschende Schulmedizin, herrschende Gesundheitspolitik können erst recht nicht heilen. VertreterInnen von fünfzehn Arbeitskreisen gründen am 27. Februar den Gesundheitsladen in der Reisingerstraße; im März 1986 zieht der Laden in die Auenstraße um.2 Im Jahr 2010 feiert er sein dreißigjähriges erfolgreiches Bestehen mit jährlich 6.000 ratsuchenden Patienten.3

Im Englischen Garten treffen sich Aussteiger, Punker, Tramper und Kiffer. Es könnte recht locker zugehen, wenn nicht …4

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Razzia im Englischen Garten

Am 11. und 12. Juli findet im Stadtteilzentrum Milbertshofen in der Nitzschestraße 7b das erste in Tagespresse und Rundfunk angekündigte Punk-Festival unter dem Motto „Dilettanten-Punk“ mit Münchner Bands statt. Hinterher bleiben Scherben und erhebliche Schulden zurück — existenz-bedrohend.6

Juliane Plambeck stirbt bei einem Autounfall. Peter Schult erinnert sich an die Zeit, als sie in der Münchner Szene aktiv war.7 Wolfgang Lupperger und Roland Otto verwahren sich gegen Schults Nachruf.8 Gerhard Seyfried spricht später über einen Verdacht, den damals viele in der Szene hatten.9

Die Neue Linke der späten sechziger Jahre wollte mehr Basisdemokratie jenseits der parlamen-
tarischen Demokratie der Bundesrepublik und des „realen Sozialismus“. Der Beginn der Achtziger Jahre markiert neben dem Jahr 1968 sowohl in der Häufigkeit der Aktionen wie auch in der An-
zahl der Beteiligten den zweiten großen eruptiven Höhepunkt der Geschichte der Bundesrepublik. Einmal sammelt sich jetzt ein Teil der linksalternativ-ökologischen Szene bei den im November 1979 gegründeten Grünen, die zunächst als „Antipartei“ auftreten und eine andere Republik mit mehr Basisdemokratie anstreben. Imperatives Mandat, die Trennung von Amt und Mandat, Rota-
tion der Mandatierten, Volksentscheide und die Vollversammlungen aller Mitglieder gehören zum selbstverständlichen Selbstverständnis. Zugleich verschieben sich die Zentren, in denen sich Pro-
teste artikulieren, weg von Parteien und Verbänden hin zu Initiativen und informellen Netzwerken. Auch in Lyrikmagazinen äußern sich immer mehr Unzufriedene.10

Immer häufiger rücken die Ordnungskräfte wie Polizei, Ordnungsamt, Bezirksinspektion, Brand-
schutz … dem ungeliebten Milb auf die Pelle. Am Tag der Bundestagswahl, 5. Oktober, feiert das Milb eine Nichtwählerparty mit verschiedenen Bands: Einstein und ich, Massenprodukt/Brigaden der Sehnsucht, Politbüro, Kakalaken, Desaster, Embryo, Roman Bunka. Alle sind lustig, es ist laut. Gegen 1 Uhr – die meisten Besucher sind schon gegangen – treffen Beamte vom 8. Revier ein. Sie fordern die Einhaltung der Sperrstunde, obwohl das Milb keine Gaststätte ist und daher auch nicht der Sperrstundenregelung unterliegt. „… Wie dem auch sei, die Cops traten auf wie Helden-
tenöre, zumal sie diesmal auch ein paar besonders fesche Recken von der zivilen Truppe mitge-
bracht hatten und damit auch gleich für Stimmung sorgten. Sie kamen auch in starker Besetzung, sodass sie, nachdem sie geschickt gewartet hatten, bis die meisten schon gegangen waren und bereits so gut wie Schluss war, mit rund 25 Mann gegenüber vielleicht 15 Gästen gut im Futter standen. Nach fruchtloser Debatte konnte der Staat mal wieder nicht weichen und es wurde geräumt, womit zweierlei erreicht wurde: Erstens blieben die Leute, die an sich langsam gehen wollten, noch da; und zweitens wurden die selben dann doch noch rausgeschmissen. Dabei ließ man, dem gewichtigen Anlass entsprechend, keine falschen Zimperlichkeiten aufkommen und sparte nicht mit dem Einsatz von Knüppeln und ließ auch den Polizeihund sich sein Fressen reichlich verdienen. Ein Zivilbulle, der sich überhaupt sehr hervortat, scheute keine Kosten, opferte seine Taschenlampe und schlug diese auf meinem Gesicht entzwei. Überhaupt, wenn’s wahr ist, dass Schläge auf den Kopf das Denkvermögen steigern, müsste der Autor darüber in einer Masse verfügen, die Einstein zum geistigen Kleingärtner degradieren würde. (Also, jetzt weiß ich, dass auch diese alte Volksweisheit nicht stimmt). –Eins wurde mir unter den Prügeln noch klar: Die hatten noch ein hehres Anliegen, ein pädagogisches nämlich; der Zivile schrie jedenfalls immer: ‚Wir haben’s euch oft genug gesagt!’ Damit ich’s nicht vergesse, eröffnete er mit seinem Spezi auf dem Revier noch eine zweite Runde, wo er noch eine Entschuldigung von mir wollte, wahrscheinlich, weil er sich so anstrengen musste. – Das mit den Prügeln auf dem Revier scheint dort zur Routine polizeilicher Betreuung zu gehören, denn einen Leidensgenossen ließen sie auch noch schnell zusammenfallen, und später hörte ich in der Zelle, wie noch jemand eine Nachbe-
handlung erhielt. Aber wozu unser Rechtsstaat gut ist, kann man daran sehen, dass die mich hinterher immerhin noch in die Chirurgie gefahren haben. So konnte das 8. Revier wohl einen alles in allem erfolgreichen Einsatz melden, zwei Leute für anderthalb Wochen einbuchten, damit sich der Aufwand auch lohnt und vor allem in der anscheinend verfolgten Strategie, das Milb langsam kaputt zu machen …“11

Samstagmittag, 22. November: Etwa 50 Punks marschieren von der Feldherrnhalle zum Domplatz. Polizei begleitet sie. Ein Kirchendiener schmeißt sie aus der Frauenkirche. Daraufhin zieht die Gruppe zum Marienplatz. Die Lage heizt sich auf. Am Ende sind 36 Punker verhaftet. 12

(zuletzt geändert am 25.12.2020)


1 Vgl. Blatt. Stadtzeitung für München 162 vom 21. Dezember 1979, 9 ff.

2 Vgl. Selbsthilfe — Eigeninitiative, hg. vom Selbsthilfezentrum 14 vom Juli/August 1990, 6 ff.

3 Vgl. Abendzeitung 288/50 vom 13. Dezember 2010, 24.

4 Siehe „Der Monopteros“.

5 Foto: Klaus Bischoff, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

6 Vgl. Blatt. Stadtzeitung für München 181 vom 29. September 1980, 20 f.

7 Siehe „Für Bine“ von Peter Schult.

8 Siehe „lieber journalist“ von Wolfgang Lupperger und Roland Otto.

9 Siehe „Langweilig war’s auch nicht“, Gerhard Seyfried im Gespräch mit Ziska Riemann.

10 Siehe „Menschen und Berufe“ von Miquel Ballester und „Lichte Momente des Bankkaufmanns“ von Lucrecia.

11 Blatt. Stadtzeitung für München 183 vom 24. Oktober 1980, 19.

12 Siehe „Punker und Polizei in München“.