Flusslandschaft 1991

Gewerkschaften/Arbeitswelt

Allgemeines
DGB

- Azubis im Handwerk
- BMW
- Bundespost
- Deutsche Aerospace
- Kaut-Bullinger
- Öffentlicher Dienst
- Siemens
- Sozialberufe


Siehe auch „Frieden/Abrüstung“, „Psychiatrie“ und „Stadtviertel“.

DGB


Vom 8. April bis 8. Mai zeigt das dgb-Bildungswerk im Gewerkschaftshaus die Ausstellung „Hiebe, Liebe und Proteste. München 1968“. Dazu erscheint ein Katalog, der 5 DM kostet. Pominente Mit-
wirkende sind der derzeitige Umweltminister Peter Gauweiler und Bürgermeister Christian Ude. Gauweiler, damals Vorsitzender der Münchner Schülerunion, protestierte gegen die „verfassungs-
widrige Zensur von Schülerzeitungen“ und gegen den „Autoritätsmissbrauch“ an den Schulen. Heute meint er: „Ich stehe auch immer noch zu dem, was ich damals geschrieben habe.“1 Zur Er-
öffnung der Ausstellung wiederholt Physiker Andreas Vollmer einen Vortrag mit dem immer noch aktuellen Thema „Die Bedeutung des Atomwaffensperrvertrages für die Bundesrepublik und für die Welt“, den er 1968 bei verschiedenen Sektionen, Kreisverbänden und Wochenendschulungen des SPD-Unterbezirks München gehalten hat.

Der DGB-Kreisvorsitzende Klaus Dittrich fordert im November, das Tarifsystem beim MVV zu ver-
einfachen und: Der Kfz-Verkehr solle in den Städten auf Tempo 30, auf Landstraßen auf Tempo 80 und auf Autobahnen auf Tempo 120 begrenzt werden. Er meint, die Gewerkschaften hätten nicht durch harte Kämpfe Arbeitszeitverkürzungen durchgesetzt, um diese dann zunehmend im Stau wieder zu verschenken.

Siehe auch „Frauen“.

AZUBIS im HANDWERK

„Handwerk hat goldenen Boden.“ Das stimmt schon lange nicht mehr. Etwa ein Drittel der Azubis verlässt nach Ausbildungsbeginn den Handwerksbetrieb. Von denen, die bleiben, fällt jeder sechste durch die Gesellenprüfung. „…Eher sportlich nahm’s der Münchner Elektro-Lehrling, der auf der Baustelle wochenlang Löcher in die Decke bohren musste. ,Da spar ich mir einen Teil vom Training fürs Bodybuilding.’ Eine Geschichte, die der Münchner Berufsschullehrer Martin Gruber nur mit bitterem Lachen erzählt. Denn: ,Ein Großteil der Auszubildenden kommt so entmotiviert aus dem Betrieb, dass wir hier kaum was auffangen können.’ Dazu kommen die Sprachprobleme der aus-
ländischen Azubis. ,Die lernen im Betrieb per Zeichensprache oder Kommandowörtern. Nur einige wenige Firmen kümmern sich um Sprachunterricht zusätzlich.’ Die engere Zusammenarbeit zwi-
schen Betrieben, Innung und Schüle wäre wohl angesagt – doch nur wenige Innungen sind dazu ehrlich bereit. Die Münchner Elektro-Innung hat einem Berufsschullehrer nicht mal die Besichti-
gung des neuen Bildungszentrums gestattet. Martin Gruber: ,Wir kämpfen viele Jahre um bessere Ausstattung der Berufsschule – und für die Kammer-Zentren fließen die Millionen ganz locker.’“2

BMW

18. März: 1988 hatte BMW für alle seine Werke die Vereinbarungen über freiwillige Sozialleistun-
gen gekündigt, damit im neuen Werk Regensburg vier Neun-Stunden-Schichten und die Samstag-
arbeit eingeführt werden konnte. Regensburg mit heute 6.000 Beschäftigten übertraf mit seiner Produktivität alle anderen Standorte. Jetzt will BMW die Samstagarbeit Schritt für Schritt auch bei seinen anderen Fabriken, zunächst in Dingolfing, wieder einführen und droht, dass BMW sonst ein neues Presswerk im Ausland errichte. – Auch Siemens droht mit Arbeitsplatzverlust, wenn die Be-
legschaft nicht am Samstag arbeitet. Der Betriebsrat im Werk Balanstraße weigert sich zuzustim-
men: Wie soll Samstagarbeit Arbeitsplätze retten, wenn doch der Siemens-Standort Neu-Perlach mit 650 Arbeitsplätzen mit Entscheid vom 11. März aufgegeben wird, obwohl es hier Samstagarbeit gab.

„BMW fordert Lehrgeld – Durchs Hintertürchen des Arbeitsvertrag will BMW in den neuen Bun-
desländern bei der beruflichen Qualifikation das Lehrgeld wieder einführen. Rund 80 Facharbeiter aus Eisenach und Umgebung werden derzeit in den BMW-Werken München und Dingolfing einge-
arbeitet, um ab 1992 im Werkzeugbau der ,BMW-Fahrzeugtechnik GmbH’ in Eisenach eingesetzt zu werden. Sie mussten sich verpflichten, mindestens zwei Jahre in Eisenach bei BMW zu arbeiten – sonst droht eine Vertragsstrafe von l0.000 Mark. Das Erpressungsgeld wird von dem Autobauer als Anteil an den Einarbeitungs- und Fortbildungskosten deklariert. Auch den 19 Auszubildenden aus Eisenach, die für ihre spätere Tätigkeit derzeit in Dingolfing ausgebildet werden, wollte BMW eine solche Rückzahlungsklausel verpassen: Wer nicht nach Ende der Ausbildung ,freiwillig’ min-
destens zwei Jahre bei BMW bleibt, sollte 5.000 Mark berappen. Von einer Übernahmeverpflich-
tung seitens der Firma steht nichts in dem Vertrag.

Für die Azubis konnte die Wiedereinführung des Lehrgeldes gestoppt werden. Die Industrie- und Handelskammer für Niederbayern stimmte der Rückzahlklausel nicht zu. Nachdem BMW den Betriebsräten in München und Dingolfing das Recht abgesprochen hatte, für die Thüringer Kolle-
gen tätig zu werden, haben die rund 100 Eisenacher in München gehandelt: Am 25. April leiteten sie die Wahl eines eigenen Betriebsrats ein. Er wird sich auch um die Gestaltung der künftigen Arbeitszeit kümmern müssen. Denn per Einzelvertrag hat BMW den Facharbeitern bereits die Zustimmung zur Samstagsarbeit und zu Überstundenleistung nach betrieblichen Erfordernissen abgepresst.3

BUNDESPOST

„Einen gelben Regenschirm mit ihren Forderungen haben Münchens Postler am 20. März dem Vorstandsvorsitzenden des Postdienstes, Klaus Zumwinkel, überreicht. »Unser oberster Chef sonnt sich in Bonn und lässt uns hier im Regen stehen«, sagte der Vorsitzende der Münchner Postge-
werkschaft, Ernst Edhofer, unter dem Beifall seiner etwa 100 Kollegen. Er forderte auf der Kund-
gebung vor der Oberpostdirektion höhere Einkommen, eine Ballungsraumzulage, Fahrkostenzu-
schüsse und verstärkten Postwohnungsbau. Nur so könne der dramatische Personalmangel besei-
tigt werden. In München fehlten 900 Beschäftigte, mehr als 750 hätten allein 1990 gekündigt.“4

„Über 50 Postlerinnen aus München und Augsburg forderten am 1. Juli den Präsidenten der Oberpostdirektion, Otto Kronthaler, auf, für Kinderbetreuungseinrichtungen bei der DBP zu sor-
gen. Bei einer schriftlichen Umfrage der DPG-Bezirksverwaltung hatten sich über 600 Postlerin-
nen bereit erklärt, die Arbeit bei der DBP wieder aufzunehmen, wenn Platz für ihre Kinder zur Verfügung stände.“5

DEUTSCHE AEROSPACE

Die Belegschaft von Telefunken Systemtechnik/Saarland demonstriert am 8. April gegen den Abbau ihrer Arbeitsplätze vor der Zentrale der Deutschen Aerospace in München.6

KAUT-BULLINGER

Am 22. Mai treten die Beschäftigten vom Lager, vom Telefonverkauf und die Auszubildenden bei Kaut-Bullinger in den Warnstreik. Sie sind gegen Leichtlohngruppen, für Höhergruppierung und wollen für die Azubis 300 DM mehr.

ÖFFENTLICHER DIENST

Die Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV) fordert zehn Prozent mehr Lohn und Gehalt. 12. und 13. März: Warnstreiks im Münchner Öffentlichen Dienst vom Verkehr über die Versorgung bis zur Verwaltung. Etwa 400.000 Münchnerinnen und Münchner kommen in der Frühe des 12. März zu spät zur Arbeit, da sechshundert Straßenbahnen und Busse in den Depots bleiben.

Mit dem letzten Tarifabschluss der ÖTV ist Michael Wendl, Sekretär beim ÖTV-Bezirk Bayern und für den Bereich Gesundheitswesen zuständig, nicht einverstanden. Er meint, dass bei der sechs-
prozentigen Lohn- und Gehaltserhöhung „die ÖTV für dieses Entgegenkommen der öffentlichen Arbeitgeber den seit Jahren heftig umkämpften Paragraphen 15 Abs. 7 BAT (Grundlage für die Bezahlung sog. Wegezeiten) preisgab und dem Arbeitgeber mit der Ausweitung sog. Bereitschafts-
dienste und Rufbereitschaften auf alle Arbeiter und Angestellten neue Flexibilisierungsmöglich-
keiten bei der Arbeitszeit“ ermöglichte. Dies bewertete er als „tarifpolitisch reaktionär … und … gegen die gewerkschaftspolitische Beschlusslage“ und vermutete dahinter ein „von vornherein vereinbartes Zusammenspiel der Tarifvertragsparteien“7. Der ÖTV-Hauptvorstand erachtet Wendls Stellungnahme als „grob gewerkschaftsschädigend“ und verfügt seine außerordentliche Kündigung. Kolleginnen und Kollegen protestieren.8 Wendl geht vor Gericht.9

SIEMENS

Am 26. April protestieren zweihundert Gladbecker vor dem Siemens-Hauptgebäude gegen den „Abbau“ von 980 Arbeitsplätzen.10 – Siemens verkauft den Bestand an werkseigenen Wohnungen in München.11 – Schon eine halbe Stunde vor der außerordentlichen Betriebsversammlung am 14. November stehen die Fertigungsflure bei Siemens-Balanstraße leer. Von viertausend Arbeits-
plätzen ist jeder zweite bedroht. Ein IG Metaller während der Versammlung: „Wenn wir jetzt stillhalten, sind wir 1994 draußen.“12

Siehe auch „Bürgerrechte“.

SOZIALBERUFE

28. Januar: Aktionstag der Sozialberufe in der Landwehrstraße.13

(zuletzt geändert am 18.5.2023)


1 Süddeutsche Zeitung 82 vom 9. April 1991, 15.

2 Hannelore Messow: „Jeder sechste rasselt durch“ In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 5 vom 8. März 1991, 16.

3 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 9 vom 3. Mai 1991, 7.

4 Deutsche Post. Zeitschrift der Deutschen Postgewerkschaft 4 vom April 1991, 39.

5 Deutsche Post. Zeitschrift der Deutschen Postgewerkschaft 7 vom Juli 1991, 44.

6 Foto in Ingelore Pilwousek (Hg.), Wir lassen uns nicht alles gefallen. 18 Münchner Gewerkschafterinnen erzählen aus ihrem Leben, München 1998, 184 f.

7 Michael Wendl: „ÖTV-Tarifrunde: Ein zu glatter Abschluss?“ in Kölner Politische Informationen 2/1991, 9.

8 Siehe „Gefeuert, weil er Kritik an der Tarifpolitik übte“.

9 Siehe „Einigung im ‚Fall Wendl’“.

10 Siehe „Betriebsfamilie“ von Knut Becker.

11 Siehe „Aber essen müssen wir doch auch“ von Hannelore Messow.

12 Siehe „Skepsis in München“ von Hannelore Messow.

13 Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen.