Flusslandschaft 1976

Stadtviertel

Das Lenbachhaus zeigt die Ausstellung „Erholungsraum Stadt“. Mitglieder von Bürgerinitiativen, die diese Ausstellung besuchen, wundern sich.1

1969 erwarb die Firma Jacob Safier & Co. das Areal der Seidlvilla am Nikolaiplatz in Schwabing für etwa 6,4 Millionen Mark. Man plante, die 1904 errichtete Villa abzureißen und das Grundstück dicht und hoch zu bebauen. Da regte sich erster Widerstand. 1971 erwarb die Münchner Grund das Areal für zehn Millionen Mark. Safier hat in zweieinviertel Jahren beinahe fünfzig Prozent Gewinn gemacht. Der Unmut wächst. Die Schwabinger Bürgerinitiative Aktion Nikolaiplatz hat siebzehntausend Unterschriften gesammelt. Ihr Motto: „Die Seidl-Villa ist mit großen Treffräumen hervorragend geeignet für ein Bürgerzentrum aller Interessenbereiche. Die Seidl-Villa soll auch für andere Stadtteile Modell sein. Oberster Leitgedanke muss deshalb die Selbstverwaltung und freie Arbeit aller Bürgergruppen sein. Alle Schwabinger und Freunde sind zur alternativen Tat aufgerufen.2 Der Stadtrat ignoriert die Forderung der Bürger. Die Entrüstung darüber schlägt hohe Wellen. In einer großen Demonstration ziehen am 14. April 1976 Tausend Schwabinger vom Odeonsplatz zum Nikolaiplatz.3 Schließlich kauft die Stadt das Grundstück 1977 und stellt die Villa unter Denkmalschutz. 1979 zieht die Polizeiinspektion 5 in die Seidlvilla. Das folgende Tauziehen mit der Stadt kostet die Aktion Nikolaiplatz Kraft und Nerven. Erst 1991 wird die Seidlvilla das „Haus für Schwabing“.

Am 29. Juni findet eine „bunte Demonstration“ für die Öffnung des Leopoldparks in Schwabing statt. Professor Bloch, Mitglied der Aktion Maxvorstadt, trägt eine selbst gedichtete Moritat vor.4

1975 plante die Stadt den Sendlinger Berg-Durchstich. Die B 2 und die B 12 sollten über die Lindwurmstraße direkt zum Altstadtring am Sendlingertorplatz führen. Die Bürgerinitiative Sendling-West probte daraufhin den „Bau(ern)aufstand“. Am 21. Juli 1976 spricht sich der Stadtrat für die Beibehaltung der Lindwurmstraße aus. Ein Ergebnis der Auseinandersetzungen ist die Gründung der Sendlinger Kulturschmiede, eines Stadtteilzentrums, in dem sich die Initiativen des Viertels treffen können. Im Kulturreferat der LHS München engagieren sich zuerst Herr Dienstbier, dann Dr. Heiner Zametzer für die Errichtung von Stadtteilläden. In Sendling ist es vor allem Gabriele Duschl-Eckertsberger, die seitdem unermüdlich eine angemessene Ausstattung der Kulturschmiede fordert.5

Die Schwabinger Bürgerinitiative Münchner Freiheit (BIMF) veranstaltet am 21. September einen Bürgertreff, auf dem sie „Parkbänke statt Bankbauten, Verwirklichung einer offenen Planung unter Mitbeteiligung und Mitsprache der Bevölkerung sowie die Erhaltung der ‚Münchner Freiheit’ für Bürgerzwecke“6 fordert.

Östlich der Innenstadt verläuft mitten durch das Lehel die Nord-Süd-Verkehrsführung. Die Einbahnstraße nach Norden, die Widenmayerstraße entlang der Isar, ist deshalb noch einigermaßen erträglich, da der Verkehrsgestank abziehen kann und der Lärm nicht von den Häuserwänden einer Straßenseite zurückreflektiert wird. Anders verhält es sich in der Emil-Riedel-/Oettingen-/Sternstraße, dem Weg nach Süden. Besonders unangenehm sind die Lastkraftwagen, die zu jeder Tageszeit Richtung Schlachthof durch die engen Straße brettern. Der Unmut über Lärm, Abgase und Unfälle führt zur Gründung der Bürgerinitiative Oettingen-/Sternstraße.7 – Bei der Bürgerversammlung am 4. November im Saal der St. Anna-Schule im Lehel befinden sich dreihundert Anwohnerinnen und Anwohner. Einer der vielen Anträge lautet, den Autoverkehr aus der Oettingen-/Sternstraße zurückzudrängen. Und: Ab 1. Januar 1977 soll der Schutz für Mieter in Altbauten wegfallen. Im Lehel, dessen 3.500 Altbauwohnungen bis jetzt als „Grauer Kreis“ ausgewiesen sind, fordert die DKP und eine Bürgerinitiative, den „Grauen Kreis“ zu verlängern.8


1 Siehe „Städte zum ‚Erholungsraum’ erklärt“ von Werner Marschall.

2 Siehe dazu „Auf geht’s in Schwabing“.

3 Vgl. Süddeutsche Zeitung 89/1976; siehe „Sieg am Nikolaiplatz?“.

4 Siehe „Zeitliches aus München“ und „Moritat. Baumfall“ von Robert Bloch; vgl. Münchner Merkur 148/1976.

5 Frau Duschl komme einem immer empört und enttäuscht vor. Das aber sei nicht der ganze Mensch. Im Prinzip sehe sich Frau Duschl der Gewaltlosigkeit verpflichtet, „aber man kann ja auch mal eine Ausnahme machen“. So Gabriele Duschl im Telefongespräch mit G. Gerstenberg am 23. März 2009.

6 Blatt. Stadtzeitung für München 78 vom 1. Oktober 1976, 6; vgl. Blatt. Stadtzeitung für München 82 vom 26. November 1976, 20.

7 Siehe „Dicke Luft in der Sternstraße“.

8 Siehe „’Freier’ Wohnungsmarkt ab Januar“ ; vgl. Lehel aktuell. Zeitung für den 13. Stadtbezirk 18 vom Dezember 1976, 1.