Flusslandschaft 2010
Gewerkschaften/Arbeitswelt
- Allgemeines
- DGB
- Amper Kliniken
- ATZ
- Beamtinnen und Beamte
- Eisenbahn
- Kliniken
- Media-Markt
- Prekarisierter Arbeiter_innen aus den neuen EU-Ländern
- Senioren
- Siemens
- TSB Tiefdruck Schwann-Bagel
- Münchner Verkehrs-Gesellschaft
ALLGEMEINES
„Er wurde wegen seiner Einstellung ausgestellt.“1
Im Paragraph 9, Absatz 3 des Grundgesetzes heißt es: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung
der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig …“ Nun kippt am 23. Juni das Bundes-
arbeitsgericht den jahrzehntelang gepflegten Grundsatz der Tarifeinheit. Das Prinzip „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ gilt nicht mehr. Das Gericht macht damit den Weg für Spartengewerkschaf-
ten frei; in einem Betrieb kann es jetzt auch mehrere Tarifverträge geben. Der DGB befürchtet daraufhin die Entsolidarisierung unter den Beschäftigten und die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) behauptet, dass sich für die Arbeitgeber Verhältnisse ergeben würden, die tarifpolitisch nicht handhabbar seien. Außerdem würde ein zunehmender Über-
bietungskampf der Gewerkschaften zu fortdauernden Streiks führen. Dies würde das Ende der volkswirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft bedeuten. DGB wie BDA fordern eine Grundgesetzänderung, die den alten Zustand wieder herstellt.
In der letzten Septemberwoche findet die „europäische Aktionswoche“ der Gewerkschaften
statt. Fünf Millionen sind in Spanien in einem Generalstreik, Hundertausende demonstrieren in Frankreich gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters um zwei Jahre, 40.000 demonstrieren
in Prag gegen die Sparpläne der Regierung, Hunderttausend demonstrieren in Brüssel bei der zentralen europäischen Demonstration. Im Olympiaeinkaufszentrum in der Hanauer Straße 68 und im Einkaufszentrum Mira in der Schleißheimer Straße 504 — 506 sind Transparente mit der Aufschrift „Generalstreik — gegen das Sparpaket“ zu sehen. Attac will am 29. September in vielen Städten, unter anderem auch in München auf dem Marienplatz demonstrieren sowie die Deutsche Bank blockieren und scheitert.2
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Stencil an der Wand des alten Karstadt-Hauses in Giesing,
das im Frühjahr und Sommer als „puerto giesing“ zwischengenutzt wird
DGB
Am Ersten Mai reden Christian Ude, Christoph Frey und Werner Neugebauer, Bezirksleiter der
IG Metall Bayern. Einige Vereine, zum Beispiel die Freidenker und den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, hat der DGB beim Infomarkt ausgeladen. Diese protestieren. Am Abend feiern diverse Gruppen. Beim Roten Salon in der Domagkstraße 33/Haus 49 spielen die Einstürzenden Musikan-
tenstadel, Riot Reiser und Anchors Up. Motto: „Hoch die Revolution! 1. Mai Gaudi 2010“.
Am 12. Juni protestieren Zehntausende in Berlin und Stuttgart für eine gerechte Umverteilung,
vor allem im Gesundheitswesen. Aus München sind etwa zweihundert Kolleginnen und Kollegen in drei Bussen nach Stuttgart gefahren. Eigentlich müssten es viel mehr sein! Kritiker meinen, dass die freiwillige Selbstbeschränkung der Gewerkschaften auf symbolische Manifestationen das Problem sei. Symbolpolitik, die nur zum Dampfablassen tauge, sei zahnlose Politik, Ankündigun-
gen, denen keine Taten folgen, wirken lächerlich. Immer wieder fordern Gewerkschaftsmitglieder, der DGB möge sich zum politischen Streik und zum Generalstreik bekennen. Beim DGB-Kongress im Mai wurde wie schon öfter eine Entschließung zum politischen Streik eingebracht. DGB-Chef Michael Sommer: „Ich werde deutlich machen, dass die gute Antikrisenpolitik fortgesetzt werden muss. Gleichzeitig müssen wir den Industriestandort Deutschland so stabilisieren, dass er seine besondere Bedeutung behält … Gewerkschaften sollten sich um die Arbeit und deren Gestaltung kümmern. Das Streikrecht ist ein ökonomisches Recht zur Regelung von Arbeit. Wir sind keine unpolitischen Organisationen, aber politische Streiks sind nicht die Sache des DGB.“4
AMPER KLINIKEN
Über Jahre hat sich die Situation der Beschäftigten in den Amper Kliniken Dachau verschlechtert.5
ATZ
„Kündigung vom Tisch — Betriebsratswahl / Einem Beschäftigten der Firma Autoteilezentrum GmbH (ATZ) in München sollte wegen des Aufrufs zur Betriebsratswahl gekündigt werden. Ende März hatten er und zwei weitere Angestellte, alle ver.di-Mitglieder, zur Wahl aufgerufen. In Einzelgesprächen versuchte der ATZ-Geschäftsführer Andreas Hanninger daraufhin, die drei einzuschüchtern, und beleidigte sie dabei als ‚Hackfressen’. ‚Das ist haarsträubend. Auch Herr Hanninger muss zur Kenntnis nehmen, dass Beschäftigte ihre Rechte haben und keine Leibeigenen sind’, sagt Orhan Akman, Gewerkschaftssekretär bei ver.di München. Das Arbeitsgericht München entschied jetzt auf eine Zurückziehung der Kündigung. Der Entlassene wolle jedoch nicht wieder in den Betrieb zurückkehren, so Orhan Akman.“6
BEAMTINNEN und BEAMTE
Am 20. Dezember protestieren DGB, ver.di, GdP und GEW gegen die Sparpläne der Staatsre-
gierung vor dem Innenministerium. DGB-Vorsitzender Matthias Jena übergibt Finanzminister Fahrenschon einen Protestbrief, den in wenigen Tagen 12.000 Beamtinnen und Beamte unter-
schrieben haben. Auf Transparenten steht: „Wir sind nicht die Sparschweine für die Bayerische Landesbank. BeamtInnen sagen „NEIN“ zu den Einsparungen an der Besoldung“ und „So kann man keinen Staat machen! Staatsregierung versenkt Milliarden — Beschäftigte sollen es ausbaden — Ohne uns!“7
EISENBAHN
Transnet und GDBA verschmelzen am 30. November in Fulda zur Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG).
KLINIKEN
In der dritten Maiwoche beginnt der Streik der Ärztinnen und Ärzte an den kommunalen Kliniken. Vom Streik ausgenommen sind Kinderabteilungen, Nothilfen und Intensiv- und Wachstationen. Die Ärzte erwarten vor allem eine bessere Bezahlung der Nacht- und Bereitschaftsdienste. Der Marburger Bund fordert außerdem fünf Prozent mehr Gehalt.
MEDIA-MARKT
Wer einen Ort sucht, in dem sich massenhaft Männer aufhalten, besucht den Media-Markt im Euro-Industriepark in der Maria-Probst-Straße 11. Vergeblich sucht, wer im Media-Markt nach einen Betriebsrat Ausschau hält.8
PREKARISIERTE ARBEITER_INNEN AUS DEN NEUEN EU-LÄNDERN
„Beginn der Veranstaltungsreihe Soziale Kämpfe des aki (Arbeitskreis International): p {margin-
bottom: 0.21cm;} – Gegen Ausgrenzung und Ausbeutung – Der Kampf prekarisierter Arbeiter_in-
nen aus den neuen EU-Ländern in München Veranstaltung mit betroffenen Aktivist_innen, der Initiative Zivilcourage und einer Vertreterin von ver.di – Zwischen 2007 und 2010 unterstützte die Initiative Zivilcourage insgesamt 46 türkische Werkvertragsarbeiter, sich gegen Lohnbetrug zur Wehr zu setzen. Seit Anfang 2010 arbeitet die Initiative eng mit prekarisierten Menschen aus neuen EU-Ländern, die jetzt im Münchner Bahnhofsviertel leben, zusammen, um gemeinsam Wege zur Verbesserung ihrer Lebenssituation und des Zusammenlebens in der Stadtgesellschaft zu beschreiten. Über 200 Tagelöhner_innen traten auf ihre Vermittlung hin der Gewerkschaft ver.di bei und bekommen so nun – vielfach mit Erfolg – juristische Unterstützung, um vorenthaltene Löhne einzufordern. Ziel der Initiative ist es dabei nicht, eine weitere karitative – unter paternali-
stischen Prinzipien arbeitende – Hilfsorganisation zu etablieren, sondern vielmehr mit partizipa-
torischen Projekten, Grenzen zu durchbrechen und gemeinsam einen Kampf für bessere und lebenswerte Lebensumstände zu unterstützen. Wir wollen an diesem Abend mit betroffenen Aktivist_innen, der Inititative Zivilcourage und einer Vertreterin von ver.di über ihre Kämpfe diskutieren. Dienstag 14. Dezember 2010 im Import Export, Goethestr. 30 ab 20:00 Uhr. Danach Party mit DJs.“9
SENIOREN
Am 9. Juni protestieren die ver.di-Senioren vor dem Hofbräukeller mit einer „Guidotine“, auf der die „drei Säulen des Sozialstaates, Gerechtigkeit, Menschenwürde und Solidarität“ geköpft werden.
SIEMENS
Siemens plant die Ausgliederung der IT-Dienstleistungssparte Siemens IT-Solutions and Services (SIS) mit 3.200 Beschäftigten in München und mit 9.700 bundesweit. Die IG Metall hat die Betroffenen für Montag, den 1. März, zu einem bundesweiten Aktionstag aufgerufen. In Perlach ist ein Protestzug geplant.10 Siebenhundert Beschäftigte beteiligen sich an diesem „Montagsspazier-
gang“. Am 23. März findet eine weitere Demonstration statt.11 Die Siemens-Beschäftigten in Bad Neustadt setzen ihren Protest gegen die „sozialverträgliche” Vernichtung von 840 Arbeitsplätzen im Elektromotorenwerk mit einer Demonstration während der Aufsichtsratssitzung am 28. April in München fort. Beschäftigte bei SIS in Bayern sowie Kollegen aus den Siemens-/Infineon-Werken sowie anderen Betrieben in München und der Region schließen sich der Demo an. Der Wittelsbacher Platz ist überfüllt.12 Auch am 5. Juli kommt es zu massiven Protesten.13
TSB TIEFDRUCK SCHWANN-BAGEL
„Warnstreik mit Erfolg – TIEFDRUCK I – Tarifbindung ist durchgesetzt – Mit ihrem dritten Warnstreik konnten die Beschäftigten des Werks München-Oberschleißheim von TSB Tiefdruck Schwann-Bagel am 9. September immerhin einen Teilerfolg erreichen. Geschäftsführer Udo Bogner bot ver.di an, dass das Werk der vollen Tarifbindung unterliegen soll, wenn im Gegenzug die Friedenspflicht wieder hergestellt wird. ‚Der Streik fand in der Belegschaft viel Unterstützung’, sagt Sabine Pustet, ver.di-Gewerkschaftssekretärin in Oberbayern. ‚Sogar Schichtführer haben sich daran beteiligt.’ Die Forderungen: Die Beschäftigten hatten sich gegen die Folgen einer Abspal-
tung gewehrt. Der Arbeitgeber will das Werk in Oberschleißheim mit 166 Beschäftigten in die neue Gesellschaft Bruckmann Tiefdruck übergehen lassen, die ursprünglich nichttarifgebunden sein sollte. Die betriebliche Tarifkommission fordert neben der jetzt durchgesetzten Tarifverbindung auch Abfindungen im Fall von betriebsbedingten Kündigungen. Denn nach ver.di-Informationen ist die neue Firma Bruckmann Tiefdruck eine vermögensarme Gesellschaft und beim Erhalt von Aufträgen völlig von der Tiefdruck Schwann-Bagel abhängig. Deshalb wird befürchtet, dass das Werk in Insolvenz geraten könnte oder bei Kündigungen nicht genügend Mittel für angemessene Abfindungen vorhanden sein könnten. Darum ist ein weiteres Ziel, jetzt durchzusetzen, dass auch die TSB für die Abfindungen haftet, und dass Abfindungen und Entschädigungen gezahlt werden, falls die neue Gesellschaft in Insolvenz gehen sollte und die Kündigungsfristen deshalb verkürzt wären. ‚Darüber verhandeln wir noch’, sagt Sabine Pustet. si!“14
MÜNCHNER VERKEHRSGESELLSCHAFT
In der zweiten, dritten und vierten Septemberwoche streiken einige Fahrer von U-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen. Sie sind in der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) organisiert und lehnen den zu moderaten Tarifabschluss der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) ab.15 Fremdenverkehrschefin Weishäupl ist sauer: „Die streiken zur Wiesnzeit, das hats noch
nie gegeben, das ist eine Unverschämtheit!“ Die Auswirkungen des Streiks sind begrenzt, die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) verweigert Gespräche mit der Begründung, man könne nicht mehrere Tarifverträge für ein und denselben Beruf abschließen. Für ver.di ist das Entstehen neuer, kleiner Gewerkschaften, die Ergebnis der Unzufriedenheit ehemaliger DGB-Mitglieder sind und die selbstbewusst und radikal auftreten, ein großes Problem. Dagegen protestieren vor allem Gewerkschaftslinke gegen den Schulterschluss von DGB und BDA. Sie warnen, dass die Initiative von DGB und BDA die Beschneidung demokratischer Grundrechte aller ArbeitnehmerInnen zur Folge hat. In den folgenden Monaten wird der Protest auch bei der IG Metall immer lauter.
1 Manfred Ach, ZIP. Komprimiertes vom Mönch, München und Wien 2010, 5237.
2 Vgl. www.de.indymedia.org/2010/10/291874.shtml und www.fotobocks.de/fotos/1009bankenaktion_attac/index.html. Siehe „Bankenblockade abgesagt: Mobilisierungsfragen und sozialer Protest“.
3 Foto © Volker Derlath
4 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Mai 2010.
5 Siehe „Rhön Klinikum AG – Amper Kliniken AG – und die Beschäftigten“.
6 ver.di Publik 05. 07/2010, 4.
7 Vgl. Münchner Lokalberichte 26 vom 23. Dezember 2010, 1 f.
8 Siehe „Stören ohne Ende“ von Andreas Hamann und „Erst gewählt, dann gekündigt“ von Dirk Nagel.
9 Rundmail vom 8. Dezember 2010.
10 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 27. Februar 2010. Vgl. www.igmetall-muenchen.de/News-Ansicht.124+M50e9416f6ff.0.html.
11 Vgl. www.igmetall-muenchen.de/News-Ansicht.124+M50096dc8443.0.html.
12 Siehe „Siemens: Rekord-Protest in München“.
13 Vgl. Münchner Lokalberichte 14 vom 8. Juli 2010, 1. Siehe „Massenprotest bei Siemens“.
14 ver.di Publik 10/2010, 5.
15 Siehe www.mgl.labournet.de/verdi-gdl/Zusammenfassung_interv_mgl_gdl_verdi2010_3.pdf und www.mgl.labournet.de/verdi-gdl/MGL-Flugi_zum_GDL-Streik_Nahverkehr_Okt_10.pdf.