Flusslandschaft 1973

Gewerkschaften/Arbeitswelt

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So genannte „funktionelle Musik“ spielt in Werkhallen, in Großraumbüros, in Wartesälen, in Supermärkten. Der Sinn liegt in der Beruhigung, in der Einstimmung aufs Positive; sie erzeugt, ohne weiter aufzufallen, Akzeptanz.1

Der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD geht im Mai 1973 aus den Münchner Arbeiter-Basisgruppen (ABG) hervor. Kritiker der K-Gruppen verweisen erfolglos auf die Klassiker: „Waren daher die Urheber dieser Systeme auch in vieler Beziehung revolutionär, so bilden ihre Schüler jedes Mal reaktionäre Sekten. Sie halten die alten Anschauungen der Meister fest gegenüber der geschichtlichen Fortentwicklung des Proletariats … Allmählig fallen sie in die Categorie der oben geschilderten reaktionären oder konservativen Socialisten, und unterscheiden sich nur mehr von ihnen durch mehr systematische Pedanterie, durch den fanatischen Aberglauben an die Wunder-
wirkungen ihrer socialen Wissenschaft.“2

DGB

Bei der Kundgebung am Ersten Mai auf dem Königsplatz nehmen zwischen zwanzig- und dreißig-
tausend Menschen teil.3 – Im Anschluss an die Maikundgebung des DGB demonstrieren die ABG zum Münchner Merkur, Paul-Heyse-Straße 2 – 4 in der Ludwigsvorstadt. Am Abend findet ihre Maiveranstaltung im Schwabinger Bräu, Leopoldstraße 82, statt, bei der u.a. der Rote Wecker, die Theatergruppe der ABG, spielt und H. Zintl redet, den die Gewerkschaft Druck und Papier (Dru-
Pa) aus ihren Reihen ausschließen will. An dieser Veranstaltung nehmen etwa siebenhundert Per-
sonen teil. — In unmittelbarer Nachbarschaft zur DGB-Kundgebung treffen sich um 10 Uhr auf dem Karolinenplatz etwa Tausend Menschen bei der Kundgebung der Arbeitersache. Sie ziehen nach einigen Reden zum Pariser Platz in Haidhausen zur Abschlusskundgebung.


„… Der ROTE 1. Mai ist UNSER 1. Mai! Der Tag ALLER ARBEITER, der deutschen und der auslän-
dischen Arbeiter, der Lehrlinge und der Frauen, der Tag von allen, die tagtäglich ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. In dieser Beziehung sind WIR ALLE in der gleichen Situation wie die ausländi-
schen Arbeiter, SIND WIR ALLE FREMDARBEITER! WIR ALLE sind beständig bedroht von LOHNRAUB, ENTLASSUNGEN, KURZARBEIT und VERSCHÄRFTER ARBEITSHETZE. Aber in den Septemberstreiks 1969 und in den Tarifkämpfen 1970 haben viele Arbeiter auch in der Bun-
desrepublik gezeigt: Wir lassen uns nichts mehr vormachen von ‚Gemeinwohl’ und ‚sozialer Ge-
rechtigkeit’! Wir kämpfen um unsere Interessen! Weil Unternehmer und Gewerkschaften die Spal-
tung der Arbeiterklasse in Deutsche und Ausländer, in Männer und Frauen, in Lehrlinge und er-
wachsene Arbeiter immer weiter treiben und viele das noch nicht durchschauen, haben sich die Arbeiter noch nicht überall vereinigt.

Manche sind außerdem auf die Versprechungen der SPD hereingefallen. Aber die Steuergesetz-
gebung, die Preissteigerungen, die Lohnleitlinien und die Verschärfung des reaktionären Betriebs-
verfassungsgesetzes zeigen, dass die SPD in allen wichtigen Fragen die Unternehmerinteressen vertritt. Die CDU/CSU, die alles unternimmt, um wieder an die Macht zu kommen, tut dies natür-
lich erst recht. Und die Gewerkschaften: Wo die Arbeiter kämpfen wollen, stellt die Bürokratie sich ihnen entgegen. Die Bonzen lassen sich korrumpieren, die Vertrauensleute (wo sie’s gibt!) lässt man schlafen, die Betriebsräte hören, sehen und tun nichts. Dass sich der DGB wirklich für die Interessen der Arbeiter einsetzt, ist nicht zu erwarten!

DER 1. MAI IST KEIN FEIERTAG DER DGB-Bonzen! Am 1. Mai müssen wir unsere Entschlossen-
heit zeigen, gegen die Unternehmer zu kämpfen, und zwar GEMEINSAM UND ENTSCHLOSSEN ! Deshalb werden wir gemeinsam mit den ausländischen Arbeitern marschieren, die oft die schwer-
sten Arbeiten machen müssen, die von den selben Vermietern noch mehr ausgepresst werden als wir. Wir werden mit ihnen zusammen demonstrieren und anschließend auf einer internationalen Versammlung über unsere GEMEINSAMEN Forderungen diskutieren – und uns darauf vorberei-
ten, weitere Kampfgruppen in den Betrieben zu organisieren …“4

Im Oktober ziehen die ABG in die Tulbeckstraße 4 im Westend um.

ARNOLD & RICHTER

Bei Arnold & Richter (ARRI), Türkenstraße 89 in der Maxvorstadt, findet im Juli ein vierzigmi-
nütiger Streik für eine Teuerungszulage von 50 Pfennigen für Arbeiter und 85 Pfennigen für Angestellte sowie ein höheres Weihnachtsgeld vergeblich statt. Stattdessen werden zuerst Alois Pangerl (Kopiermaschinenbau) und dann der Betriebsrat Herbert Wagner (Arriflexabteilung 16) gekündigt. Der Kopiermaschinenbau hat sich ziemlich geschlossen an dem Streik beteiligt, für
den sich Pangerl auf der Betriebsversammlung einsetzte. Für die Entlassung Pangerls haben die Betriebsräte aus Fräserei, Versuch, Technischem Büro und der Elektrofertigung in der Georgen-
straße gestimmt, während sich der Betriebsrat aus der Dreherei enthalten und die beiden Vertreter aus der Arriflex 16 sowie die aus der Installation und der Elektronik dagegen gestimmt haben. Wagner gelingt es schließlich, die Entlassung rückgängig zu machen, allerdings wird er aus der IG Metall ausgeschlossen.

BAYERN-KURIER

Der Bayern-Kurier wettert ununterbrochen gegen die Gewerkschaften, warnt vor einem „Gewerk-
schaftsstaat“. Die IG Metall argumentiert zurück.5

BMW

Die neuen kommunistischen ML-Gruppen planen – so die Kritik der Antiautoritären – eine Stell-
vertreterpolitik. Da man politische Zusammenhänge erkannt hat und die Verhältnisse zwischen Theorie und Praxis, plant man Politik für die Arbeiterklasse. Dagegen steht der Ansatz unter dem Motto „Wir befreien uns selbst“.

In der Zeit von Februar 1973 bis Ende Sommer 1975 geben die Gruppen Arbeiterkampf in Köln, Revolutionärer Kampf in Frankfurt, Arbeitersache in München und die Proletarische Front in Hamburg und Bremen eine gemeinsame Zeitung unter dem Titel Wir wollen alles (WWA) heraus. Der diese Zeitung tragende Konsens wird von der Arbeitersache München im Januar 1973 wie
folgt charakterisiert: „Arbeiterautonomie, Primat der Praxis und der Betriebsarbeit, radikale Gewerkschaftskritik, Einbeziehung der Ausländer in den nationalen Klassenkampf, praktische Bezugnahme auf den proletarischen Lebenszusammenhang.“

Die Arbeitersache beschäftigt sich in erster Linie mit Immigranten. Sie schreibt: „Viele Genossen haben Bedenken gegen diesen Ansatz, weil die ausländischen Arbeiter oft den Arbeitsplatz wechseln, nicht stetig an einem Arbeitsplatz bleiben. Wir sagen: das ist kein Nachteil, sondern
ein Vorteil. Wenn wir davon ausgehen, dass die Arbeiter in der Lage sein werden, Kampf- und Handlungsmuster zu entwickeln, dann sind wir auch der Ansicht, dass jede Verbreitung dieser Erfahrungen durch Mobilität den Klassenkampf weitertreiben wird. Und wir sind überzeugt, dass all die Widersprüche in steigendem Maß Kämpfe hervorbringen werden, bei denen wir eine verallgemeinernde, gewissermaßen ‚synthetisierende’ Funktion haben. Ein Modell das glaubt, nur dadurch, dass jemand zehn Jahre in einer Abteilung subversiv arbeitet, entstände Kampfbereit-
schaft, geht an der heutigen Realität der Großbetriebe vorbei. Es unterstellt aber auch, dass das Proletariat nicht über ein Wissen von den Kampfformen verfügt, sondern sie ihm sehr langatmig nahegebracht werden müssen. Das stimmt nicht – dieses Wissen ist vorhanden, aber es ist von vielen Schleiern verdeckt, an deren Lüftung wir mitarbeiten.“6

Täglich fahren sechshundert Sattelschlepper durch die Riesenfeldstraße in Milbertshofen. Die Anwohner sind mit den Nerven am Ende. Dazu kommen noch die giftigen Dämpfe aus der Lackiererei, unter denen nicht nur die Arbeiter leiden. Die Arbeitersache hat zur Aktion „Laster raus aus der Riesenfeldstraße“ aufgerufen. Am 27. Juni versperren dreihundert Menschen die Torausfahrt von BMW. Die LKWs müssen nun das Westtor benützen. Nachdem einige Fahrer die Demonstranten zur Seite drängen wollen, wehren sich diese und lassen bei einigen Fahrzeugen die Luft aus den Reifen. Zunächst wird lautstark diskutiert, dann kommt es zu einem Handgemenge zwischen Demonstranten, Werkschutz und Polizei. Schließlich rückt eine Hundertschaft an, prügelt die Einfahrt wieder frei und nimmt sechs Personen fest. Am folgenden Tag sichert Polizei das Tor, so dass die Anwohner nur „Laster raus“ rufen können und die Sattelschlepper mit Papierkugeln und mit wassergefüllten Ballons bewerfen können. Tage später droht BMW mit der Schließung der Fabrik, falls die Transporte nicht mehr möglich sind. Da auch viele Anwohner bei BMW arbeiten, macht diese Ankündigung Angst. Die Konflikte gehen auch im nächsten Jahr weiter.7

„… In der Metall Nr. 18 von 1973 heißt es: ‘Die Unternehmer hatten für diese berechtigten Forde-
rungen nur Ironie. Bezirksleiter Franz Steinkühler berichtete von ihrer menschenverachtenden Einstellung …’ Doch diese menschenverachtende Einstellung der Unternehmer ist der Grund dafür, dass BMW derartige Profite machen kann. Wir werden auch die Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen genau wie die Forderung nach mehr Lohn nur im Kampf durchsetzen können … 6 Minuten bezahlte Pause pro Stunde und Verbot von Arbeitstakten unter 1,5 Minuten würde die unmenschliche Situation bei uns am Band etwas verbessern. Jedoch können auch diese Forderun-
gen nicht die gesamte Unmenschlichkeit des Akkordsystems aufheben. So alt, wie dieses System ist, so lange kämpfen auch schon die Kollegen dagegen. Schluß mit dem mörderischen Akkord!“8

Der Fordismus wirkt in alle Lebensbereiche hinein, Privates und Freizeit, die gesamte Alltagskultur sind der Arbeit untergeordnet. „Das Wohnheim wird als eine Verlängerung der Fabrikinstitution angesehen, die Arbeiter sprechen von Wohnfabrik.“9

Der Trikont Verlag in der Josephsburgstraße 16 veröffentlicht eine Schallplatte mit dem Titel „Wir befreien uns selbst.“ Hier geht es auch um Gastarbeiter-Wohnheime, Akkordhetze und den Streik bei BMW. Gegen den Verlag wird ein Verfahren wegen „Staatsverleumdung“ eingeleitet; es droht eine Beschlagnahme der Platte.10

BUNDESPOST

22. Januar: Mitglieder der Postgewerkschaft demonstrieren für ihre Lohnforderungen.11 Die Deutsche Postgewerkschaft (DPG) ruft den Streik aus.12

SIEMENS

Im Kongreßsaal des Deutschen Museums findet wie jedes Jahr die Aktionärsversammlung von Siemens statt. Letztes Jahr gab es Tumulte. Wird die Versammlungsregie dieses Jahr geschickter gehandhabt?13

ZEITUNGEN

Die meisten Zeitungsverkäufer des Boulevard-Blatts tz sind Pakistaner. Sie fordern Ende März/ Anfang April vom Münchner Zeitungsverlag eine Erhöhung ihrer Pauschale. Die meisten haben den Verkauf eingestellt, jetzt werden alle entlassen. – In der Druckindustrie gärt es. Am 4. April finden Warnstreiks im Pressehaus Bayerstraße, Paul-Heyse-Straße 2 – 4 in der Ludwigsvorstadt, anlässlich der Drucktarifrunde statt. Beim Münchner Merkur wird vormittags eine Stunde lang
in der Anzeigen- und der Maschinensetzerei gestreikt. Nachmittags wird in der MM- und der tz-Mettage eine Stunde lang gestreikt. Weitere Aktionen finden unter anderem statt in der Maschi-
nensetzerei und dem Korrektorat. Daraufhin wird die Belegschaft ausgesperrt und führt eine hun-
dertköpfige Demonstration zum Hotel Deutscher Kaiser, Arnulfstraße 2, durch. Die Belegschaft der Süddeutschen Zeitung will auch kommen, wird aber zunächst zum Haus des Sports geschickt und kommt dadurch zu spät. — Am 5. April findet bei Bruckmann ein Warnstreik anlässlich der Drucktarifrunde statt, an dem sich von 9 Uhr bis 9 Uhr 30 die Abteilungen Buchdruck, Offsetdruck und Setzerei beteiligen.

In der dritten Juliwoche wollen die ABG täglich vor dem Pressehaus Bayerstraße einen Infostand betreiben, mit dem sie gegen die Entlassung vom Lehrlingen beim Münchner Merkur protestieren; die Infostände werden verboten.

(zuletzt geändert am 9.3.2019)


1 Siehe „Krach als Beruhigungsmittel“ von Josef Krancher.

2 Karl Marx/Friedrich Engels, Das Manifest der kommunistischen Partei, In: Marx/Engels Werke, Berlin (DDR) 1959, 491.

3 Fotos von Rudolf Pröhl befinden sich in der Fotosammlung des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung.

4 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

5 Siehe „Dank F.J. Strauß & ‚Bayern-Kurier’: Fronten werden immer klarer!“ von Carl-Friedrich Ponn.

6 Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen. Multinationale Betriebs- und Regionsarbeit der Gruppe Arbeitersache München, München 1973, 35.

7 Siehe dazu „Der Norden“ und „Noch drei Tote bei BMW?“.

8 Der Motor 10 vom September 1973, 1.

9 Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen. Multinationale Betriebs- und Regionsarbeit der Gruppe Arbeitersache München, München 1973, 108 f.

10 Siehe „Tommy kommt aus München“.

11 Vgl. Süddeutsche Zeitung 18/1973.

12 Siehe „Wir organisierten auch den ersten Streik mit“ von Christine Saurer.

13 Siehe „Ein Kapitel vom Kapital“ von Udo Hergenröder.