Flusslandschaft 1981
Freizeit '81 (I)
Gerade für junge Menschen gibt es kaum Orte in der Stadt, in denen sie selbstbestimmt leben können. Die Mieten sind zu hoch und im öffentlichen Raum finden sich keine Freiräume für al-
ternative Lebensformen. 1981 wird zum Höhepunkt einer neuen „Jugendrevolte“. Punk ist eine Lebenseinstellung mit radikalster Verweigerung und zugleich unbedingter, aber auch resignativ-hoffnungsloser Selbstverwirklichung.1
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Die Freizeit ’81 (F 81), bei der auch der Maler Florian Süßmayr aktiv ist, verbindet Kampf, Kunst, Punk und Politik und propagiert Formen des militanteren, aber auch spontanen und unkontrol-
lierbaren Widerstands und der Wiederaneignung urbaner Räume.3 Ein unübersichtlicher und fluktuierender Kreis miteinander befreundeter junger Leute trifft sich bevorzugt im Stadtteilzen-
trum Milbertshofen in der Nitzschestraße 7b und im Vollmond in der Schleißheimer Straße 82 in Westschwabing. „In zahlreichen Texten der Gruppe, in denen sich pessimistische Gegenwarts-
analysen und Endzeiterwartungen spiegelten, waren Einflüsse des ‚New Wave’ und der expres-
sionistischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts unverkennbar. Freizeit 81 vermittelte einen unbedingten Vitalismus, der seinen Ausdruck in eigensinnigen, subversiven, nicht aber theoriege-
leiteten Aktionen finden sollte: ‚FREIZEIT 81 ist Widerstand aus dem Bauch, eine unkontrollierte Reflexbewegung. Niemand kann mit jeder Aktion einverstanden sein, aber jeder sollte seine eige-
nen Sachen machen. Nur Mut, aber PASST BLOSS AUF! … FREIZEIT 81 ist ein Symbol der Unzu-
friedenheit. FREIZEIT 81 ist eine Festveranstaltung gegen die BRD!’“4
Am 30. Januar veranstaltet die F 81 ihr erstes „U-Bahnfest“, das von „Schwarzen Sheriffs“ gewalt-
sam aufgelöst wird. Noch im Winter finden Aktionen statt, die die Stadt, von der die Akteure nicht viel halten5, etwas farbiger gestalten.6
F 81 beginnt in München, ist aber schon bald an Hauswänden in Würzburg und sogar in Berlin zu entdecken.
Am 11. Februar werden aus Solidarität mit Berliner Hausbesetzern Schaufensterscheiben von Münchner Banken eingeworfen.7
Polizeipräsident Dr. Manfred Schreiber meint im Februar: „In München – das garantiere ich – bleibt kein Haus länger als 24 Stunden besetzt.“ Und zu Verhaltensweisen bei Räumungen sagt er: „Tragen statt schlagen … Aber immer kann man das nicht machen. Das Recht bietet dazu keine Möglichkeiten.“8 Prompt kommt es am 20. Februar zu einer 30-Minuten-Schein-Hausbesetzung in der Türkenstraße 30 in der Maxvorstadt. Der Sichtziegelbau, ein schützenswertes, verwittertes, mit Plakaten zugepflastertes Denkmal, steht seit 1973 leer. „Eine halbe Stunde lang besetzten sechs Leute das Haus in der Türkenstraße 30 ‚schein’ und verlangten ein Gespräch mit dem Besitzer des Hauses. Statt dessen erschien die Polizei und nahm die Besetzer fest. Es wurden zwei Haftbefehle erlassen, die jedoch später außer Kraft gesetzt wurden.“9 In derselben Nacht löst die Polizei im Milbertshofener Zentrum eine „Hausbesetzerparty“ mit der Begründung „Überschreitung der Sperrstunde“ auf. OB Kiesls Büro: „Die Feier war angeblich die Vorbereitung zu einer Hausbe-
setzung …, wozu ca. zweihundert Leute bereit waren."10
Die Münchner Polizei hat sich inzwischen Blanko-Strafanträge von Hausbesitzern für den etwaigen Fall einer Hausbesetzung geben lassen. Auch die Landeshauptstadt München hat bei zwei ihrer leerstehenden Anwesen in der Steinstraße 17 und Heidelärchenstraße 23 solch eine Blanko-Straf-
anzeige der Polizei auf deren Wunsch übergeben. Nachdem diese Blanko-Strafanträge in der Öffentlichkeit bekannt werden, hinterlegt der Kritiker des überbordenden Individualverkehrs, Rechtsanwalt Konrad Kittl, bei der Staatsanwaltschaft einen Blanko-Strafantrag, gültig bei der Gefährdung von Leib und Leben von Herrn Kittl im Straßenverkehr, der auch formgültig entge-
gengenommen wird.11
26. Februar: Scheinbesetzung in der Schellingstraße 5 in der Maxvorstadt. Polizei dringt nach ca. einer Stunde in das Haus ein, drinnen ist keiner, draußen sind etwa dreihundert Leute. — Im März stehen in München etwa 850 Wohnungen in dreihundert Häusern leer, allein in Neuhausen elf Häuser. Zugleich sind beim Sozialamt 16.000 Wohnungssuchende unter der Rubrik „Höchste Dringlichkeitsstufe“ registriert.
In Nürnberg werden am 6. März massenhaft Hausbesetzer festgenommen. 141 Haftbefehle lauten auf „schweren Landfriedensbruch“. In München kommt es am 10. März zu einer Protestkundge-
bung gegen die „Bayrische Linie“ mit vierhundert Demonstranten auf dem Odeonsplatz, die im Anschluss an die Kundgebung unangemeldet durch die Stadt demonstrieren. Niemand wird fest genommen. Ein weitere Protestmarsch erfolgt am 12. März mit dreitausend Teilnehmern. „Am 13. März folgten ca. sechzig Leute dem Aufruf Freiburger Hausbesetzer, die Polizei zu beschäftigen. Dies gelang dann auch, es gab zehn Festgenommene. Dieses Ereignis motivierte am nächsten Tag dreißig bis vierzig Leute, vor der Ettstraße ihr ‚eins, zwei, drei…’ zu rufen.“12 Am 17. März sind immer noch fünfundvierzig Besetzerinnen und Besetzer inhaftiert.
Nach einer DKP-Demonstration kommt es am Sonntag, 15. März, zwischen 19 und 20 Uhr zur Hausbesetzung des seit dem Herbst des vergangenen Jahres leerstehenden ehemaligen Kreis-
wehrersatzamtes in der Albrechtstraße 31. Neununddreißig Hausbesetzer wollen ein selbst-
verwaltetes Jugendzentrum in Neuhausen und demonstrieren Solidarität mit den Nürnberger Verhafteten. Schon bald sind etwa hundertfünfzig Sympathisanten da, die den Zugang zum Haus blockieren, unter ihnen August Kühn („Zeit zum Aufstehn“) und etwa Tausend Schaulustige. Die Hausbesetzer bestehen darauf, dass ihre Aktion gewaltfrei war und bleibt. Dann splittert die ver-
barrikadierte Eingangstüre an der Rückfront des Hauses. 614 Polizisten, 305 von ihnen kommen von auswärts, räumen von 2 bis 4 Uhr früh und nehmen neununddreißig HausbesetzerInnen und vier SympathisantInnen (25 Männer, 16 Frauen, der DKP-Kreisvorsitzende Matthias Oberhofer und der SDAJ-Vorsitzende Klaus Brütting) fest.14 Viele werden später wegen Haus- und Land-
friedensbruchs verurteilt.
Am Abend des 16. März veranstalten die inzwischen wieder Freigelassenen eine Mahnwache vor der Albrechtstraße 31, gleichzeitig machen etwa zweihundert Menschen eine Spontandemonstra-
tion vom Sendlinger-Tor-Platz über den Marienplatz, Löwengrube, Lenbachplatz zum Hauptbahn-
hof. Einige versuchen im Anschluss an die Demo vergeblich ein neues Haus in der Karlstraße 32 zu besetzen. Vor dem Hauptbahnhof: Die Heckscheibe eines Autos, das einem „Schwarzen Sheriff“ ge-
hört, geht zu Bruch. Zwei Sheriffs packen den, der den Stein geworfen hat, dieser wird von anderen Punkern befreit, er rennt los mit einer Sheriff-Mütze in der Hand. Ein anderer, der gerade das ent-
glaste Auto besprühen will, wird festgenommen und bekommt später, weil er angeblich auch noch den Stein geschmissen haben soll, sechs Monate auf Bewährung. Ministerpräsident F.J. Strauß meint: „Unter den Hausbesetzern gibt es Personen, die eng mit dem Kern der Terrorismus ver-
wandt sind. Es besteht die Gefahr, dass aus dem Umfeld der derzeitigen Hausbesetzer eine neue terroristische Bewegung erwächst.“15
Die F 81 nimmt an vielen Demos und Besetzungen teil. Am 18. März findet eine neue Solidaritäts-
demonstration von 3.000 Menschen statt, die Straffreiheit für die Hausbesetzer in der Albrecht-
straße fordern. Auf dem Fronttransparent ist zu lesen: „Bleibt froh und heiter – der Häuserkampf geht weiter.“ Die Demo wird von vielen behelmten Polizisten begleitet. Der Block der Punker ist durchsetzt von zivilen Beamten. Es kommt zu einem Scharmützel mit Ordnungshütern sowie zu einer Verhaftung. OB Kiesl meint, die Münchner Wohnungsnot resultiere auch aus der Tatsache, „dass die jungen Leute heute nicht mehr mit einem winzigen Appartement zufrieden sind, sondern gleich eine Zwei- oder Drei-Zimmer-Wohnung haben wollen“.16
Am 24. März (25. ?) besetzen Studierende 2½ Stunden lang das Haus in der Lothstraße 52. Man kommt nach Verhandlungen mit dem Vertreter des Präsidenten der Fachhochschule Dr. Kessler zu einer Einigung.
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4. April, 11.30 bis 14.50 Uhr: Etwa 2.500 Demonstrantinnen und Demonstranten protestieren ge-
gen Wohnungsnot und Spekulantentum. Die Möglichkeit, dass sich daraus stärkerer Widerstand entwickeln könnte, veranlasst die Polizei dazu, sofort einzugreifen. Nach dem Ende der Demo pro-
vozieren Zivis aus nichtigem Anlass eine Schlägerei, Vorwand für das Eingreifen der Uniformier-
ten. Neunzehn Männer und drei Frauen werden festgenommen, gegen elf von ihnen, darunter drei Jugendliche, ergeht Haftbefehl. Später ist die Rede davon, die Polizei hätte schon während der De-
mo einen Teil der später Herausgegriffenen »markiert«. Die sich im Polizeipräsidium wiederfin-
den, sind natürlich nicht alles Unschuldslämmer. Einige haben sich zur Wehr gesetzt, weil sie sich nicht jede Provokation der Polizei gefallen lassen wollten, einige haben sich im Laufe der Demo am Werfen von Krachern und Farbeiern (hauptsächlich gegen die Türen und Fenster der Münchner Banken, die Spekulation und Mietwucher durch ihre Kredite finanzieren) beteiligt, sind aber nicht erwischt worden, wieder andere wurden wahllos herausgegriffen. Mit Sicherheit wurden die Aktio-
nen der Polizei auf höhere Weisung und nach einem gut kalkulierten Konzept durchgeführt.18
Die Haftgründe, die eilig gezimmert werden, laufen bei allen auf dasselbe hinaus: mangelnde sozia-
le Bindungen, Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr. Gegen die unberechtigte Inhaftierung sowie gegen die verschärften Sonderhaftbedingungen (Einzelhaft, Einzelhofgang, Ausschluss von Ge-
meinschaftsveranstaltungen – also Isolierung) treten am 9. April zehn der Verhafteten in einen Hungerstreik. Die Anwälte beantragten Haftprüfungstermine, durch die bis Montag, 13. April, alle aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Von den zwanzig eingeleiteten Verfahren werden nur zwei eingestellt, bei allen anderen kommt es zur Verhandlung. Trotz harter politischer Linie von Richtern und Staatsanwälten werden vier Leute freigesprochen. Die anderen Urteile allerdings sind horrormäßig: Insgesamt wurden zweimal Haftstrafen von acht Monaten und dreimal Haft-
strafen von sechs Monaten auf Bewährung wegen angeblichem Widerstand, Körperverletzung und Landfriedensbruch verhängt. Außerdem Geldstrafen von dreißig bis zu sechzig Tagessätzen und gegen die Jugendlichen Arrest von sechs Tagen. Zwei Polizisten werden von der Verteidigung we-
gen falscher Aussagen und falscher Anschuldigungen angezeigt, deren Verfahren erwartungsgemäß eingestellt.19
Die Festnahmen und der Erlass von Haftbefehlen wirken auch als Abschreckung. Ein Text schil-
dert bestimmte Methoden der Gefangenenbetreuung. Der Theorie sind praktische Ergebnisse bei-
gefügt. Und ein Aufruf.20
Zurück zum Ablauf der Ereignisse:
Dem Aufruf eines „Antispekulationskomitees“ zu einer Demo folgen am 5. April rund 2.000 Men-
schen. Zum Abschluss gibt es Krawall und elf Festnahmen. Am 6. April ziehen vierhundert Haus-
besetzer-Sympathisanten durch die Innenstadt und fordern die Freilassung der Verhafteten. Am 7. April drohen die Festgenommenen mit Hungerstreik. Am gleichen Tag: Spontandemo mit 500 Teilnehmern auf beiden Fahrspuren der Leopoldstraße. Zivile Beamte trauen sich nicht, im Zug mitzumarschieren. Einer, ders versucht, wird verprügelt.
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Im Milbenzentrum findet am 8. April ein Soli-Konzert mit Embryo und Kakalaken statt. Am 9. April veranstalten etwa zweihundert Leute eine Kundgebung mit Konzert um 17 Uhr vor der JVA Neudeck und um 19 Uhr vor der JVA Stadelheim.22
Am selben Tag wird Anklage gegen acht Demonstranten vom 4. April erhoben. Egon Günther warf ein Farbei und wird jetzt dafür zu 35 Tagessätzen verknackt.23 Anderen geht es noch viel schlim-
mer. Am selben Tag protestieren Studenten der Fachhochschule gegen Raummangel und Jugendli-
che gegen die Verhaftungen der letzten Tage.24
„1981 habe ich mich mit meiner autonomen Gruppe an der Mariensäule angekettet, um gegen die Festnahme unserer Leute aus der Hausbesetzerszene zu protestieren. Den Schlüssel haben wir weggeworfen. Der Einsatzleiter (der Polizei) kam zu uns und hat gesagt, sie sind bereit, die Aktion zu tolerieren — und ging. Wir mussten bis zum Abend warten, bis ein Bekannter zufällig vorbei kam und uns im Kaufhof eine Metallsäge gekauft hat.“25
Siehe auch „Alternative Szene“ und „CSU“.
(zuletzt geändert am 24.12.2020)
1 Siehe „Künstliche Anwesenheiten“ von Mona Winter. Vgl. Michael Sturm: „‚Passt bloß auf!’ Militante Proteste in München (1969 — 1982)“ in Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 127 ff.
2 Börni, Annette, Ruth, Mathias, Hartmut (Wächtler), Christopher, Lilo, Billy und Andrea (Wolf) mit Beiträgen von Wolfi und Reinhard, Stark sein – stärker werden, München Januar 1984, 103.
3 Siehe „das kann nicht alles gewesen sein …“.
4 Michael Sturm: „‚Passt bloß auf!’ Militante Proteste in München (1969 –- 1982)“ in Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 134 ff.
5 Siehe „München auf einen Blick“.
6 Siehe „Selber was machen“.
7 Vgl. Münchner Merkur 35/1981.
8 Zit. in Freizeit 81, Winter 1981, (11) unpag.
9 Freizeit 81, Winter 1981, (11) unpag.
10 Münchner Merkur vom 23. Februar 1981.
11 Konrad Kittl am 21. April 2009.
12 Freizeit 81, Winter 1981, (11) unpag.
13 abgebildet in: Börni, Annette, Ruth, Mathias, Hartmut (Wächtler), Christopher, Lilo, Billy und Andrea (Wolf) mit Beiträgen von Wolfi und Reinhard, Stark sein – stärker werden, München Januar 1984, 17.
14 Siehe „Bleibt froh und heiter, der Häuserkampf geht weiter!“. Vgl. Dokumentation Albrechtstrasse 31, 1981. Eine Radierung mit dem Titel „Münchner Gschichten, Albrechtstraße, 16./17. März 1981“ von Franz Kochseder ist abgebildet in: tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 142 vom April 1983, 42.
15 Münchner Merkur vom 17. März 1981.
16 Münchner Merkur vom 18. März 1981.
17 abgebildet in: Börni, Annette, Ruth, Mathias, Hartmut (Wächtler), Christopher, Lilo, Billy und Andrea (Wolf) mit Beiträgen von Wolfi und Reinhard, Stark sein – stärker werden, München Januar 1984, 12.
18 Siehe „Aus den Protokollen einiger Demonstrationsteilnehmer“, „Zivilpolizei mischt Demonstranten auf“ und „… stark sein — stärker werden …“ von Andrea Wolf. Siehe auch „Die Presse“.
19 Siehe „Das U-Haft-Karussell oder ein Rädelsführer wird gesucht“ und „Knastmuttertage“.
20 Siehe „Bayerisches Sibirien“.
21 Börni, Annette, Ruth, Mathias, Hartmut (Wächtler), Christopher, Lilo, Billy und Andrea (Wolf) mit Beiträgen von Wolfi und Reinhard, Stark sein – stärker werden, München Januar 1984, 53 und 57.
22 Siehe „B. und M. zur Kundgebung vor Stadelheim“.
23 Vgl. Prozessakt in der Sammlung Egon Günther.
24 Vgl. Süddeutsche Zeitung 80/1981, 81/1981, 82/1981 und 84/1981.
25 Stadtrat Siegfried Benker in der Abendzeitung vom 31. März 2009, 14.